: Schißgefahr auf dem Sinnareal
■ „Atelier Moskau“: Moskauer KünstlerInnen in Vegesack / Zwischen Anpassung und Ausbruch
Die Bedeutung der Worte hängt ab vom Sprachspiel, in dem man zu pokern hat. Typisch russisch? Modern? All das sind Begriffe, deren Sinnareal sehr schnell ausfransen kann. Zum Beispiel, wenn sich Moskauer KünstlerInnen und Bremer JournalistInnen zu unterhalten versuchen.
Anlaß dieser Begegnung der – noch immer – anderen Art: Auf Initiative von Udo von Stebut, ehemals Mitglied des Vulkanvorstands und jetzt selber freischaffend (allerdings als Ingenieur) und freidenkend geworden, sind eine Woche lang die Arbeiten von sechs Moskauer KünstlerInnen im Vegesacker KITO und im Kulturbahnhof, einem Lagerschuppen-idyll mit akuter Schwalbenschißgefahr für Mensch und Kunst, zu sehen.
Da fragte eine Journalistin nach dem typisch Russischen in der Kunst. Und Valerij Swetlitzkij fängt daraufhin an vom Reisen zu erzählen. Wie seltsam. Wenn überhaupt etwas zur Zeit „typisch russisch“ist, das will und Swetlitzkij wohl sagen, dann ist es der Wunsch, möglichst viel Neues und Fremdes in sich aufzusaugen.
Hinzu kommt die Neugier auf verschüttete russische Traditionen: Malewitsch, Kandinsky, die kannte man natürlich auch vor Glasnost. Poliakoff aber zum Beispiel mußte man in deutschen Museen entdecken. Unvollständig also war die Überlieferung der klassischen russischen Moderne in der UdSSR.
Sie sehe nichts Sozialkritisches in den Arbeiten der sechs Moskauer, meint eine andere Journalistin. Ob das denn aus der russischen Kunstlandschaft endgültig verschwunden sei? Darauf Swetlitzkij mit apodiktischem Gestus: „Man sagt zu Unrecht, daß Kunst eine didaktische, eine pädagogische Aufgabe zu erfüllen habe.“Als ob man das in Westeuropa noch explizit betonen müßte. Hier muß ein inhalts- und aufklärungswilliger Künstler darum kämpfen, daß engagierte Kunst nicht von vornherein als platt beiseite gewischt wird.
Wie sich doch die Verständnishorizonte, besonders die Feindlinien, unterscheiden. „Mich interessieren die neueren Bewegungen, soziale Fragen sind für mich zweitrangig. Ich bewundere den deutschen Expressionismus und sehe mich selbst in der Tradition des abstrakten Expressionismus.“Und der begann vor 35 Jahren. Was also ist neu, ist modern? Aljona Anosseowa und Natalja Testina erzählen, daß im sowjetischen Ausbildungssystem eine strenge Abgrenzung der Gattungen vorgenommen wurde. Hier Bildhauerei, da Zeichnung, dort Gemälde.
Das Sprengen dieser Begrenzungslinien wurde ihnen zur Aufgabe. Sie machen Collagen und Materialbilder, die bei „uns“heute in jeder Ausstellung des Künstlerverbands BBK hängen könnten, allerdings auch in jeder BBK-Ausstellung der 60er Jahre.
Doch dann zeigt Udo von Stebut die liebenswürdigen chagallesken Märchentableaus, die Natalja Testina bis vor zwei Jahren gemacht hat – und man begreift auf einmal die Heftigkeit des Befreiungsschlags. Allerdings ist der Weg jedes Künstlers zwischen sowjetischen und westlichen Begrenzungen und Möglichkeiten ein eigener. Anossowa machte von jeher ihre Alberto-Burri-nahen Sack-Sand-Zement-Bilder. Gennadij Serow dagegen verfuhr vor der Perestroika zweispurig: für die da draußen malte er realistisch, für den Eigenbedarf grau-dominierte All overs.
„Ich lebe auf Messers Schneide; deshalb wohl arbeite ich auch mit dem Messer“, meint Aljona Anossowa, und meint damit sicher nicht nur die ästhetische Situation, sondern auch die ökonomische.
Der russische Staat läßt es zu, daß Kunst und Kultur vollständig auseinanderbrechen, sagen die Moskauer. „Es verschwinden Schulen, es verschwinden die tradierten Kompetenzen.“Es fehlt Geld.
Deshalb sind die Bilder und Skulpturen dieser Doppelausstellung zu kaufen. Im Angebot: Qualitätsvolle Kunst, nicht zuletzt aber auch Dokumente einer schwierigen Zeit des Umbruchs. Barbara Kern
„Atelier Moskau“bis 15. Juni im Kulturbahnhof und im KITO Vegesack; Eröffnung Sonntag, 8. Juni, 11 Uhr im KITO; als Ergänzung: ein Beiprogramm mit Vorträgen und Konzerten
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