Mama, 's Harry nervt uns schon wieder

Faxenmacher, Kotzbrocken, Klassenclown, Mädchenschreck: Auf Spurensuche im schwäbischen Nürtingen, wo unser täglich TV-Entertainer Harald Schmidt schon als kleiner Harry alle ärgerte  ■ Von Josef-Otto Freudenreich

Harry selbst hat einmal gesagt, jetzt, wo er ein berühmter Showmaster sei, eben der selbsternannte Godfather of Late Night Talk, jetzt gehöre er endgültig zu den „drei großen H“ von Nürtingen. Da schwang viel Stolz in der Stimme mit, denn bei den anderen beiden handelt es sich immerhin um die Herren Hölderlin und Härtling. Nun mag manch einer verwundert sein ob der kühnen Tat, sich in einem Atemzug mit dem wohlbekannten Dichter und dem Schriftsteller zu messen, aber ist es nicht sogar so, daß Harald Schmidt, den sie in seiner Heimatstadt alle nur Harry nennen, womöglich längst der berühmteste von allen ist? Selbst Peter Härtling, der 63jährige und vielfach Preisgekrönte, tritt da in aller Bescheidenheit zurück. Nur der Hölderlin, sagt sein Biograph, „wär' vielleicht a bißle bekümmert“.

Wahrlich, es führt kein Weg daran vorbei, daß der 39jährige Schaumeister zu den großen Söhnen der Stadt gehört, denn im Fernsehen, dieser Welt von allerwichtigster Wichtigkeit, ist er ein Star. Aber wer weiß schon, wie er dazu geworden ist? War er von Kindesbeinen an ein solcher Bösewicht, oder war es immer die Rolle, auf die er zielstrebig hinarbeitete?

Schmidt, das Kind sudetendeutscher Eltern, war Fremder wie der Chemnitzer Härtling. Beide sind in Nürtingen aufgewachsen, in der, so Härtling, „gewissen Enge“ des Neckartals. Machen wir uns auf zur Spurensuche in der kleinen Stadt, hoffend, daß die Menschen, die ihn kannten, helfen können, die verwirrende Persönlichkeit des umstrittenen Entertainers verstehen zu lernen.

Angefangen hat alles im Arbeiterviertel „Braike“. Dort, in der Hermann-Löns-Straße 24, haben Anton und Martha Schmidt mit ihren Söhnen Reinhard und Harald in einer Zweizimmerwohnung gelebt. Der Vater war Verwaltungsangestellter, die Mutter Kindergärtnerin, „grundsolide und rechtschaffen“, wie Mutter Martha betont. „Alles ganz normal“, sagt sie und legt Wert auf die Feststellung, daß es auch so geblieben ist. Sie trage weder Stöckelschuhe noch Brillanten und wenn ihr Harald – die Mutter spricht nie von einem „Harry“ – heim komme, sei er wie immer. Ruhig, anhänglich, ein „ganz normales“ Kind, wahrlich „kein Heiliger“.

Ihr Sohn habe, wie alle anderen auch, kurze, vorn aufknöpfbare Lederhosen getragen, habe Karl May gelesen und mit Vorliebe hinter Büschen gelegen, um sich dort diebisch über die Opfer seines Geldbeutel-Wegziehspiels zu freuen. Hervorgekrochen ist er, wenn Uli, das verhätschelte Einzelkind, vorbeihuschen wollte. Uli hat schon im Spätsommer eine dicke Wollmütze aufgehabt, was in der Braike ein Verstoß gegen die rauhen Sitten war.

Hauen konnte unser Harry also schon. Etwas viel Wichtigeres konnte er nicht: Fußballspielen. Zu tolpatschig stellte sich der lange Lulatsch an, um beim täglichen Kick neben der Versöhnungskirche mithalten zu können. Harry durfte nur mitspielen, wenn er den SDR-Hörfunkreporter Gerd Million nachmachte. Jeder Stürmer verstolperte den Ball vor Lachen, wenn Harry die schnarrende Stimme imitierte. Dadurch wurde Harry zum gefürchtetsten Verteidiger des ganzen Fleckens. Kabarett als Hilfsmittel in allen Lebenslagen; der galoppierende Gag als Chance, etwas Besonderes zu sein, ohne das Einfache zu können. Das Außergewöhnliche als Sicherheit, Lob einzuheimsen, ein bißchen fies zu sein, um den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen – dort auf dem Spielplatz „Kullerberg“, könnte der Grundstein für die unheimliche Kar-

riere liegen. Und Gerd Million war der Pate.

Aber ist dieser Weg zum Ekel der Nation wirklich linear und ohne Brüche nachvollziehbar? Ja, sagen die Frauen aus seiner Klasse. Alle hätten sie Angst vor Harry gehabt, erzählt Gabi Sigler. Gemein sei er gewesen und verletzend, ständig habe er „schweinisches Zeugs“ geredet, ihre Hilflosigkeit als „wohlerzogene, brave Mädchen“ solange strapaziert, bis sie heulend weggerannt seien. Ein Frauenheld habe er sein wollen, doch nie habe sich eine „mit diesem Kotzbrocken“ eingelassen. Ob das nicht doch die schlichten Sprüche eines pubertierenden, unter Akne leidenden Jungen waren? Nein, beharrt die 39jährige Grundschullehrerin, „Harry war so und ist so geblieben“. Oder sei da etwa ein Wandel erkennbar, wenn Dirty Harry in seiner Show höhnt, Claudia Schiffer habe nur deshalb keine Falten, weil sie nicht ordentlich gebügelt werde? Am meisten verabscheue er, bekannte der Liebessüchtige einmal, das Winseln um Zuneigung.

Die männlichen Klassenkameraden äußern sich spürbar wohlwollender. Für sie war der Faxenmacher das Prinzip Provokation gegen die Pauker. Exmitschüler Siegfried Besemer sagt, „der Klassenclown“ habe „nicht ständig gedemütigt“. Für ihn, Besemer, sei es eher eine Frage der Politik, ob man mit Schmidt kann, konnte oder nicht. „Leute mit konservativer Grundeinstellung“, meint er, „haben mit ihm Probleme.“

So gespalten die Mitschüler sind, so unterschiedlich fallen die Meinungen der Lehrer aus. Heidi Jüttner, die ihn vom 14. Lebensjahr in ihrer Theater AG unterrichtet hat, schwärmt von ihrem talentiertesten Zögling. Sie mochte seine „freche Gosch“, seinen Biß, seine Gnadenlosigkeit, auch seinen Zynismus. Giftig sei er gewesen, gegen andere und gegen sich. Mit normalen Maßstäben

habe man den blitzgescheiten Jungen, „dieses Erzschlitzohr“, schon damals nicht messen können. Ernst Trost, sein letzter Klassenlehrer, blickt deutlich zorniger zurück. Ein „widerlicher Schüler“ sei der Schmidt gewesen, poltert der strenge Mathepauker, einer, der „immer in Opposition gemacht“, sich in die Bank gelümmelt und unter die Gürtellinie geschlagen habe: „Gegen jeden guten Geschmack.“

Oder ist Karl-Ulrich Kazenwadel anderer Meinung? Der Direktor des Hölderlin-Gymnasiums, das im Städtchen liebevoll „Högy“ genannt wird, versucht es mit einem neutralen Standpunkt. Einerseits ist Schmidt der prominenteste Absolvent des Högy, andererseits ist er in „sexuellen Dingen doch arg wüscht gewesen“. Noch gut ist Kazenwadel im Gedächtnis, wie weiland das ZDF bei ihm angerufen und um die Adressen der Schmidtschen Mitschüler gebeten hat. Damals hat er wütende Proteste von den Betroffenen geerntet, die partout nicht in die Sendung „Klassentreffen“ gehen wollten. Sehr beliebt sei er wohl nicht gewesen, folgert Kazenwadel, denn von 30 seien gerade mal fünf zum Wiedersehen mit Harry gekommen.

Da hält er sich lieber raus aus dem verminten Gelände und läßt die Fakten sprechen. Und die lauten: Der Schüler Schmidt ist in der 12. Klasse durchgefallen, wegen einer Fünf in Französisch und in Mathe. Seine schlechteste Note in Betragen war ein Befriedigend, in Religion hatte der Katholik einmal eine Eins. Arreste oder Verweise wegen unbotmäßigen Verhaltens sind nicht vermerkt. Hölderlin stehe ihm schon näher als Schmidt, bekennt der vorsichtige Schwabe, weshalb seine Anstalt auch niemals Harald-Schmidt- Gymnasium heißen

werde. Nein, so weit dürfe es, bei allem Verständnis für den Zeitgeist, nicht kommen.

Das offizielle Nürtingen tut sich schwer mit seinem großen Sohn. Im Rathaus, im Zimmer 208, treffen wir auf Frau Schäfer, Sekretärin von Oberbürgermeister Alfred Bachofer. Ihr Chef, so sagt sie, will nichts über Schmidt sagen. Er kenne ihn nicht, er schaue seine Sendung nicht an, und er interessiere sich auch nicht für ihn. Die Vorzimmerdame spricht so über ihrem ehemaligen Schulkameraden: „Der Harry hat alle bloßgestellt“, schimpft die Högyanerin, „und das vergißt eine Frau nie!“ Ihre finale Aussage, daß es nie Schmidt-Festspiele in der Stadt geben wird, weil dies „einen Proteststurm“ hervorrufen würde, darf deshalb als amtliche Bekanntmachung begriffen werden. Die lokale SPD hätte im vorigen Jahr ihren „Heckschnärre“-Preis beinahe an Schmidt vergeben, geriet aber intern darüber in heftigen Zwist und vertagte. Das zweite Gesicht ihres verlorenen Sohnes könnten die NürtingerInnen in der Katharinenstraße 17 finden, wo das Pfarramt der Johannesgemeinde zu Hause ist. Dort würde ihnen Rosemarie Sedlak berichten, was für ein guter Mensch ihr Harry war. In 30 Jahren hat sie 16 Zivildienstleistende erlebt – und der erste war der beste: Schmidt.

Morgens um acht hat er die Orgel gespielt, an den Nachmittagen bei den Altencafés das Akkordeon, bei den Stadtranderholungen den Clown und im Dezember den Nikolaus. Warmherzig sei er gewesen, berichtet die Pfarramtssekretärin, und nie habe er jemandem wehgetan. Oder hätten ihn die alten Damen, die ihm „zu Füßen gelegen sind“, sonst mit Süßigkeiten überhäuft? Und kramt das Ge

meindeblatt vom Oktober 1978 hervor, in dem ihm der Herr Pfarrer persönlich ein „herzliches Vergelt's Gott“ entboten hat. Auch dafür, daß der geliebte Zivi immer eine „fröhliche Miene“ hatte und „alle zum Schmunzeln“ brachte. Was Harry heute macht, mag sie nicht leiden. Das ist nicht ihr Harry, sagt sie. Aber warum tut er's dann? Tut er's, weil für ihn das „größte Unglück“ ist, von niemandem geliebt zu werden, „wenn du down und out bist?“, wie er dem FAZ-Fragebogen anvertraute?

Auch Felix Müller, Leiter der Stuttgarter Schauspielschule, kann einiges zur Wahrheitsfindung beitragen: Vier Jahre lang hat er versucht, aus Schmidt einen guten Mimen zu machen, was ihm nach eigener Einschätzung bei Ulrich Tukur vorzüglich, bei anderen Eleven nur unzureichend gelungen ist. Harald habe zwar einen unbändigen Ehrgeiz gehabt und stets davon geredet, so bedeutend wie Brecht und Peymann werden zu wollen, aber er habe immer nur eine Rolle gespielt, nie sich selbst. Ein netter, scheuer, nicht gehässiger oder bösartiger Mensch sei er gewesen, aber auch einer, der für seine „grenzenlose Sucht nach Berühmtheit“ alles tut. Dem opfere er alles – „auch seine Seele“.

Schade das. Vielleicht hätte Harald Schmidt doch auf Lebenszeit Zivi bleiben sollen. Für die Bedienung von Orgeln hat der begabte Hobbymusiker mittlerweile sogar den offiziellen C-Schein.