Angstträume ohne Hinterbeine

■ Die Wohnungsnot eines zivilisatorischen Gespenstes hat ein Ende: „Ein Zimmer für Hauser“von Michael Schneider beherbergt die Legende zwischen Hitler, Goethe und Augenbetten

Von drei Männern geht die Rede. Erstmal war da mal einer, der wußte nicht, wer er war. Und das war vor 169 Jahren schlimm, schlimmer noch als heute. Er lebte in einem Schrank und wußte von nichts, als er gefunden ward. Er war der Wilde mitten in der Zivilisation, das invertierte Spiegelbild des Robinson. Er wurde Kaspar Hauser genannt, ein erwachsener Findling, ein Prinz, vielleicht. Er wollte ein Reiter werden. Doch er war allein wie keiner, er wurde beobachtet wie je einer, er wurde ermordet. Er wurde eine Legende, noch heute gut für eine Titelstory.

Da war mal ein anderer, und das ist gar nicht so lange her, der schwänzte gerne die Schule. Dazu versteckte er sich in einem Schrank. Von Kunst träumte er und er wurde Kunstvermittler. Christoph Grau heißt er. Und der traf den dritten, der war Holzschnitzer gewesen, in der Röhn. Und der wollte richtig Künstler werden und in Karlsruhe hat er studiert und nach Hamburg ist er gekommen und Martin Schneider heißt er. Und der Kaspar Hauser, der hat ihn immer interessiert. Und so hat er bei dem Kunstvermittler ein ganzes Zimmer aufgebaut, für den armen Findling von damals. Und ein großer Schrank ist auch darinnen. Und ein Bett und ein Tisch mit acht Stühlen. Doch Ruhe kann keiner dort finden. Denn viele Augen und ernste Gesichter mit Perücken und viel schön geschriebener Text und Goethe und Novalis und Hitler sind da und rauben alle Ruhe, wie sie doch sein sollte im Biedermeier.

Die Installation in den neuen Räumen der Agentur für zeitgenössische Kunst reizt ungemein, auch sprachlich in Argumentationsmuster alter Zeiten zu verfallen. Das bedeutet keineswegs sie sei museal oder verstaubt. Alle Möbel sind zwar alten Formen grob angelehnt und benutzbar, doch aus MDF-Platte gemacht. Die Zeichnungen und Porträts sind an der Oberfläche eingebrannt.

Für ein Leben ohne Anfang und Ende, das nur für fünf Jahre in der Zeit aufscheint, kann es noch weniger als für andere historische Personen den fragwürdigen Reiz des Authentischen geben. Wahr ist immer nur das glaubhaft Beschworene. Der Stuhl auf dem eine große Person einst real gesessen hat gewinnt davon allein noch keine Aura. So sind die lapidaren Neuschöpfungen von Martin Schneider gute Gedankenträger, die in die deutsche und europäische Geistesgeschichte hineinziehen.

An Kaspar Hauser spiegelt sich eine ganze Epoche zwischen rigider Zivilisation und romantischem Naturgesetz, zwischen den Wünschen des Privaten und den Forderungen des Sozialen. Und der Schrank als Abgang in den Kellerkerker und das Bett voller Augen, es sind Topoi der Psychoanalyse und surrealistischer Angstträume. Ein Traum von Stärke und Freiheit ist auch das weiße Pferd, einzige Plastik im großen Schrank. Doch ach, ihm fehlen die Hinterbeine...

Hajo Schiff

Christoph Grau, Agentur für zeitgenössische Kunst, Zöllnerstr. 23, Mi-Fr 16–19 Uhr, bis 29. Juni