Orangenes Haar, geblähte Bäuche

In Nord-Korea sind möglicherweise bereits Tausende an Hunger gestorben. Die UNO warnt: Am 20. Juni sind alle Vorräte aufgebraucht  ■ Von Thomas Dreger

Wir Alten sind darauf gefaßt, daß der Tod langsam kommt. Aber sogar die Jungen beginnen, die verbleibenden Tage ihres Lebens zu zählen“, heißt es in einem Brief aus Nord-Korea an Verwandte in China. „Schickt alles, was eßbar ist. Mein Körper schmerzt so, daß ich kaum den Stift halten kann, um diesen Brief zu Ende zu schreiben.“

Chinesische Lkw-Fahrer, die regelmäßig die Grenze nach Nord- Korea überqueren, berichten von toten und sterbenden Kindern, die am Straßenrand zurückgelassen worden seien. „Ich habe Schulkinder gesehen, die vor Hunger taumelten, als seien sie betrunken“, erzählt einer.

Nordkoreanische Bauern würden die Beerdigungen von verstorbenen Angehörigen so lange hinauszögern, bis die Leichname anfingen zu verrotten, berichten Flüchtlinge an der chinesisch-koreanischen Grenze. Sie wollten verhindern, daß hungrige Landsleute die Toten wiederausgraben, um sie zu verzehren. Eine Frau, die die Flucht zu Verwandten über die Grenze geschafft hat, erzählt, sie habe bereits im Winter jeden Morgen tote Kinder in den Straßen liegen sehen – gestorben vor Hunger und Kälte. Seit Ende 1995 seien mindestens 100.000 Menschen in Nord-Korea verhungert.

Auch US-Geheimdienstberichte sprächen von bis zu 100.000 Hungertoten, erklärte Tun Myat vom UN-Welternährungsprogramm (WFP) kürzlich nach seiner Rückkehr aus Nord-Korea. Die Südkoreaner behaupteten gar, in dem verfeindeten nördlichen Nachbarstaat würden täglich bis zu 2.000 Menschen sterben. Tun Myat nennt dies „plausible Angaben“, die jedoch von jenen, die in das Land gelassen werden, nicht zu bestätigen seien. „In einer Gesellschaft, in der Offenheit nicht gerade zu den Gepflogenheiten gehört, kann so etwas passieren, und die meisten Leute bekommen es nicht mit. Vielleicht sehen wir derzeit nur die Spitze des Eisberges.“

Die Berichte von Mitarbeitern ausländischer Hilfsorganisationen, die das Land besuchen durften, unterscheiden sich auffallend von jenen Angaben, die auf inoffiziellem Weg aus Nord-Korea dringen. Die Bevölkerung Nord-Koreas leide zweifelsohne schweren Hunger, eine Hungersnot stünde kurz bevor, berichten internationale Helfer aus dem abgeschlossenen Land. Eingetroffen sei diese Katastrophe aber noch nicht.

Doch die meisten Nord-Korea-BesucherInnen weisen darauf hin, daß sie kaum Lebensmittel sahen: „Die Küchen sind leer, außer ein paar Schalen mit Baumrinde und Graswurzeln in Wasser, um sie aufzuweichen und als Eintopf zu kochen“, berichtete Ole Grönning von der internationalen Liga der Rotkreuzverbände. In den Lagerhäusern des Landes sei nichts mehr. Die Lebensmittelrationen seien schon vor Wochen auf täglich hundert Gramm pro Kopf herabgesetzt worden, doch viele Menschen streckten vergeblich die Hand aus.

„Ich fürchte, die Situation ist extrem ernst“, erklärte WFP-Exekutivdirektorin Catherine Bertini. „Wir haben unterernährte Kinder gesehen, Kinder mit allen Anzeichen, daß sie schon länger nicht genug zu essen bekommen haben: orangenes Haar, geblähte Bäuche, bis auf die Knochen abgemagerte Arme und Beine.“

Doch die Informationen sind nur stückweise zusammenzutragen. Anfragen des WFP, das ganze Land bereisen zu dürfen, wurden abschlägig beschieden. Möglicherweise fürchten die Funktionäre in Pjöngjang, dabei könnte das gesamte Feld der Ursachen der Not offenbar werden – und damit das totale Scheitern ihrer Politik. Denn nach offizieller Darstellung sind für den Hunger ausschließlich die Überschwemmungskatastrophen der letzten drei Jahre verantwortlich. Westliche Beobachter glauben jedoch, daß Mismanagement großen Anteil an der Katastrophe hat. Die Überschwemmungen hätten sich von „einem Feigenblatt in eine Zwangsjacke verwandelt“, beschreibt ein Kenner des Landes die Nöte der nordkoreanischen Führung mit der eigenen Argumentation.

Laut WFP braucht Nord-Korea in diesem Jahr noch 2,36 Millionen Tonnen Hilfslieferungen. Insgesamt seien 95,5 Millionen US-Dollar für eine weltweite Hilfsaktion für Nord-Korea erforderlich. Um eine Fortschreibung der alljährlichen Krise zu verhindern, fordert die US-Hilfsorganisation World Vision noch weiterreichende Maßnahmen: „Der Staat braucht Devisen, nicht nur Lebensmittel“, verkündet die Organisation. „Er braucht massive Entwicklungsprojekte, um die Infrastruktur wiederaufzubauen. Es braucht massive Lieferungen an besonders ertragreichen Sämereien und Dünger, um den Boden wiederanzureichern.“ Grönning warnt: „Der reiche Teil der Welt muß aufwachen, ansonsten werden wir zusehen müssen, wie die meisten der 24 Millionen Menschen in Nord- Korea sterben.“ Catherine Bertini appelliert: „Um ein Massensterben zu vermeiden, brauchen wir die Direktspenden von Länderregierungen“. Da ist Eile angebracht. Denn nach neuesten Schätzungen des WFP sind die Nahrungsmittelvorräte Nord-Koreas am 20. Juni aufgebraucht.