Ein Land tritt mißmutig auf der Stelle

Vier Jahre nach der Annullierung der letzten freien Wahlen in Nigeria durch das Militär richtet sich Diktator Abacha auf Dauer ein. Die versprochene Machtabgabe kommt wohl nicht mehr vor 2000  ■ Aus Lagos Manfred Loimeier

Die Regenzeit hat eingesetzt und die Straßen der nigerianischen Metropole Lagos unter Wasser gesetzt und aufgeweicht. Die Gräben der Kanalisation schwappen beinahe schon über, und wegen der hohen Luftfeuchtigkeit nehmen auch die Stromausfälle zu. Langsam, vorsichtig und im Zickzack kurven Taxifahrer um bisweilen unterarmtiefe Schlaglöcher herum; manchmal hilft dennoch nur ein zeitraubender Umweg, weil das Wasser zu hoch auf der Fahrbahn steht.

Zwischen scheppernden Autos, überfüllten Omnibussen und überladenen dieselqualmenden Lastwagen versorgen jugendliche Verkäufer in der Schwüle und Hitze der Lagunenstadt die in den Staus stehenden Passagiere mit mehr oder weniger wichtigem Alltagsbedarf: Regenschirme, Heckenscheren, gekühltes Wasser, Kaugummi, Socken, Hemden, Nüsse, Toilettenpapier sowie Zeitschriften und Zeitungen wie Punch, Vanguard oder Guardian. „Das Jahr 2000 – Abachas neues Rücktrittsdatum?“ titelt die Wochenzeitschrift The News, während das Nachrichtenmagazin Tell sich mit dem Aufmacher „Why Abacha Must Go“ (Warum Abacha gehen muß) wieder einmal den Besuch des Staatssicherheitsdienstes einhandelt.

Von Rücktritt des nigerianischen Militärdiktators keine Spur. Immer unüberhörbarer werden in Lagos die Rufe, die General Sani Abacha dazu auffordern, über das Jahr 1998 hinaus – den bisher von Abacha selbst genannten Termin des Übergangs zur Demokratie – im Amt zu bleiben, sei es als Führer einer Militärregierung oder als gewählter ziviler Präsident. Anzeigenkampagnen in bundesweit erscheinenden nigerianischen Tageszeitungen drücken aus, was Generalmajor Abdulkarim Adisa anläßlich eines Kongresses in der Stadt Ilorin wiederholte: Abacha möge doch über 1998 hinaus „die gute Arbeit fortsetzen, die er seit 1994 leistet“.

Dieser Vorschlag findet allerdings nicht nur Freunde unter den Politikern Nigerias. Einer von drei Ministern mit Sonderaufgaben, Alhaji Wada Nas, kritisierte in einer eigenen doppelseitigen Anzeige derlei „satanische“ Pressekampagnen, die das gegenwärtige Übergangsprogramm zur Demokratie störten. Die Unklarheit über die politische Zukunft Nigerias und seines Diktators Abacha schürt überdies der Informationsminister Walter Ofonagoro, der die „epileptische Kakophonie an widersprüchlichen Nachrichten“ aus der Ministerriege dadurch zu klären versucht, daß er betont, alle diese Äußerungen gäben nur die persönliche Meinung der Minister wieder, stellten aber keine offizielle Verlautbarung dar.

Abacha selbst schweigt zu diesen Auseinandersetzungen. Während die politischen Freunde des Militärdiktators unterstreichen, daß er nie öffentlich erklärt habe, an den Präsidentschaftswahlen 1998 teilnehmen zu wollen, kritisieren seine Gegner die Desinformationskampagne und heben hervor, daß der General die Spekulationen über seine Kandidatur ebensowenig dementiert wie bestätigt habe.

Unterdessen verfolgt man im Hause Aso Rock, dem Sitz der Regierung in der Hauptstadt Abuja, offiziell die Strategie, mit der Gründung neuer Staaten im Niger- Delta und bei Enugu, der Hauptstadt des einstigen Biafra, den Übergang zur Demokratie zu verzögern. Von den politischen Vertretern der dieses Jahr neu gegründeten sechs Bundesstaaten Ekiti, Ebonyi, Bayelsa, Zamfara, Nasarawa und Gombe wird erwartet, daß sie alsbald um eine Verschiebung der für Ende 1997 vorgesehenen Gouverneurswahlen in ihren Staaten bitten, weil sie die in so kurzer Zeit nicht organisieren könnten. Damit würde der Zeitplan für die für 1998 vorgesehene Präsidentschaftswahl hinfällig, und daher werde General Abacha seine Amtszeit als Diktator über 1998 hinaus verlängern müssen – vorerst um zwei Jahre.

„Die Einwohner dieser Staaten werden General Abacha ewig dafür dankbar sein, diese Staaten für sie geschaffen zu haben, weshalb sie alles mögliche tun werden, um ihm zu helfen, im Amt zu bleiben“, analysiert ein Politiker der Opposition die Taktik. Unterstützung erhält Abacha von den fünf politischen Parteien Nigerias, die nach einem langwierigen Ausscheidungsverfahren als Auffangbecken für regierungstreue Politiker zu den Kommunalwahlen am 15. März 1997 zugelassen worden waren. „Auf die Gefahr hin, als Saboteure des Übergangsprogramms zu gelten, können sich zahlreiche Vertreter dieser Parteien vorstellen, sich auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten zu einigen“, zitiert die Zeitschrift The News gewöhnlich gut unterrichtete Kreise aus Abuja, die nicht namentlich genannt werden wollen. Als gemeinsamer Kandidat der National Centre Party of Nigeria (NCPN), der United Nigeria Congress Party (UNCP), der Democratic Party of Nigeria (DPN), des Congress for National Consensus (CNC) und der Grassroots Democratic Movement (GDM) für eine auf das Jahr 2000 verschobene Präsidentschaftswahl gilt unbestritten: General Sani Abacha.

Anhaltende Unruhen im ölreichen Niger-Delta kommen dem Militärregime wie gerufen – und es ist auch dafür verantwortlich. Mit der Gründung der neuen Staaten wurden nämlich auch die Grenzen regionaler Distrikte verschoben, ohne Rücksicht auf die betroffenen Volksgruppen. Eine blutige Auseinandersetzung zwischen Mitgliedern des Ijaw-Volkes aus dem Bundesstaat Delta sowie Itsekiri und Ilaje aus dem Staat Ondo um ein Ijaw-Dorf, das Ondo zugeteilt wurde, eskalierte vor wenigen Monaten in einem Maße, daß die Armee eingriff und sogar die Ölförderung zeitweise gedrosselt werden mußte. Warteschlangen an den Tankstellen auch in Lagos waren die Folge und zeigten, wie leicht das Wirtschaftsgefüge Nigerias – einer der größten Ölproduzenten der Welt – ins Wanken zu bringen ist.

„Abacha ruiniert Nigeria noch vollends“, kommentieren die Autofahrer an den Zapfsäulen die neue Taktik Abachas ebenso mißmutig wie die Studenten der wieder einmal geschlossenen Universität von Lagos. Zur schlechten Stimmung trägt die eingeschränkte Bewegungsfreiheit am Abend bei, verursacht durch mysteriöse Bombenanschläge in Lagos und Ibadan, die vom Regime der Opposition zugeschrieben werden, sowie einige Explosionen im Hafen von Lagos. Die sogenannte „Operation Sweep“ des Militärs, die mit öffentlichen Hinrichtungen und nächtlichen Erschießungen von mutmaßlichen Bandenmitgliedern kurzfristig für etwas Ruhe auf den Straßen in Lagos sorgte, ist von dem versprochenen Prinzip abgekommen, unbestechlich zu bleiben. Nun nehmen die Sicherheitskräfte die angespannte Situation zum Anlaß, sich mit Übergriffen auf die Zivilbevölkerung erneut etwas hinzuzuverdienen. Nachts halten sie Busse an, nehmen die Insassen fest, schlagen sie mit ihren Peitschen und lassen sie nur gegen Bestechung frei.

Einer Meinungsumfrage, derzufolge sich augenblicklich 38 Prozent der Wähler in Nigeria für Abacha aussprechen und nur 15 Prozent für Chief Moshood Abiola, dessen Wahl zum Präsidenten am 12. Juni 1993 annuliert worden war, mißt niemand Glaubwürdigkeit bei. Für die Bevölkerung von Lagos ist der inhaftierte Abiola, nach dem der Volksmund bereits eine Straße benannte, der unbestrittene legitime Präsident.

„Abacha zerstört den Mittelstand“, lautet die Meinung ehemals durchaus wohlhabender Nigerianer. Wer sich an den Ölboom der späten 70er Jahre und an den seinerzeit landesweit spürbaren Aufschwung erinnert, der sieht die gegenwärtige Misere Nigerias besonders klar. „Alles, was wir damals hatten und was uns damals erreichbar schien, haben wir verloren“, sagt ein Bäcker. „Das ist zwar nicht allein Abachas Schuld, aber Abacha ist der letzte, der heute etwas dagegen unternehmen will. Statt dessen wird es mit ihm nur schlimmer.“ Der Bäckerbetrieb verhalf früher nicht nur der Familie des Inhabers, sondern auch einigen Angestellten zum Wohlstand; heute ernährt der Bäcker nur noch gerade so die nächsten Angehörigen. Sein Firmenwagen steht ungenutzt im Hof, weil das Geld für Benzin fehlt und sich kein Käufer für den Wagen findet.

Normale Handelsgeschäfte scheitern in Nigeria bisweilen schon am desolaten Kommunikationsnetz. Wer über ein Telefon oder ein Fax verfügt, hat noch lange keine funktionierende Leitung; und hat er eine, hat nicht notwendig auch der Empfänger eine solche. Die Stromausfälle gerade zur Regenzeit und die wegen der wiederkehrenden Benzinknappheit sparsamer betriebenen Generatoren tun ein Übriges.

„Die Inflationsrate ist zwar gesunken, und die Handelsbilanz hat sich verbessert, aber wenn Sie bedenken, wie wenig effektiv menschliche Energie und Kapital immer noch eingesetzt werden, ist das sehr ernüchternd“, beschreibt ein Unternehmer die gelähmte Stimmung im Lande. Er stellt Flaschenabfüllanlagen her, scheitert bisher aber mit dem gewünschten Export nach Ghana an den nigerianischen Zollvorschriften. „Das Schlimme ist, daß kaum noch jemand Hoffnung auf Besserung spürt. Die meisten hier wollen weg oder erwarten ohne Zuversicht die Zeit nach Abacha.“