Hintendran bleibt hintendran

■ Der neue Sozialstrukturatlas weist Kreuzberg, Tiergarten und Wedding als die ärmsten und Zehlendorf als den reichsten Bezirk aus. Ostberliner Bezirke holen auf

Für Zahlenfetischisten und Sozialanalytiker ist das Heftchen eine wahre Fundgrube: Im Sozialstrukturatlas steht nicht nur, in welchem Bezirk die meisten Menschen an Lungenkrebs und Leberzirrhose sterben. Das Zahlenwerk verrät beispielsweise auch, daß in Kreuzberg die meisten Männer und in Prenzlauer Berg die meisten 18- bis 35jährigen leben. Die Zahlenkolonnen, erstmals 1995 von der Senatsverwaltung für Gesundheit für alle 23 Bezirke herausgegeben, sind jetzt neu erschienen und erweitert worden.

Um den sogenannten Sozialindex für die einzelnen Bezirke zu ermitteln, rechneten die Statistiker ingesamt 20 Indikatoren zusammen wie beispielsweise Alter, Einkommen, Schulabschlüsse und Gesundheitszustand. Neu hinzugekommen sind in diesem Jahr die Anzahl der Nichtdeutschen pro Bezirk, die Lebenserwartung und die Größe der Haushalte.

Verlierer ist genauso wie vor zwei Jahren Kreuzberg. Ähnlich ungünstig ist auch die Sozialstruktur in Tiergarten und Wedding. In diesen drei Bezirken leben besonders viele Sozialhilfeempfänger, Alleinerziehende, Geringverdiener und Arbeitslose. Den günstigsten Sozialindex hat unverändert Zehlendorf. Besonders stark erwischt hat es die Randbezirke: So rutschte Reinickendorf von Platz 5 auf Platz 11, Spandau von Platz 10 auf Platz 15.

Mittlerweile geht es den Menschen im Ostteil der Stadt vielfach besser: Hohenschönhausen erklomm den 10. Platz (1994 Nummer 15), Mitte kletterte auf Platz 14 (1994 Nummer 16). Eine wirklich gute soziale Struktur ist dagegen ausschließlich im Südwesten der Stadt auszumachen. In Zehlendorf, Wilmersdorf und Steglitz (Platz 1 bis 3) leben jedoch nur 13 Prozent der gesamten Bevölkerung.

Der Sozialstrukturatlas dient als Leitlinie für die Planungen des „gesamtstädtischen Versorgungsstandards“: Daraus leiten die Finanzplaner unter anderem ab, wieviel Geld jeder Bezirk für die Bereiche Jugend, Soziales, Gesundheit, Menschen mit Behinderungen und MigrantInnen für das Haushaltsjahr 1998 bekommt. Diese regional erfaßte Sozialstruktur diente in den vergangenen Jahren schon mehrfach als wichtiges Entscheidungskriterium für den Planungsprozeß, zum Beispiel für den Personalschlüssel für soziale Dienste und für Kindertagesstätten. Auch für die schrittweise Enthospitalisierung aus der Psychiatrie in Wohngemeinschaften und für die Verwaltungsreform sollen die Zahlen herangezogen werden.

Ursachen für die unterschiedlichen Sozialindexe benennt der Katalog allerdings nicht. In Wedding, das von Platz 19 vor zwei Jahren jetzt auf Platz 21 rutschte, macht der leitende Fachbeamte für Gesundheit und Soziales, Peter Block, die Arbeitslosigkeit als Hauptfaktor aus. So habe der Arbeiterbezirk eine Steigerungsrate von 7,8 Prozent in einem Jahr zu verzeichnen: Von 167.000 EinwohnerInnen sind 17.000 ohne Job, überproportional betroffen sind Nichtdeutsche. Der Wedding sei „immer schon“ ein schwacher Bezirk gewesen. Eine Erklärung ist für Block, daß über Jahrzehnte anhaltend Generationen von Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen – Vater, Mutter Kind – den Sozialindex drückten. Besserverdienende seien gerade in den vergangenen zwei Jahren aus „sozialen Brennpunkten“ wie der Koloniestraße weggezogen. Und auch das drückt die Statistik: Fast jeder fünfte Weddinger verdient weniger als 1.000 Mark monatlich und liegt damit unter dem Sozialhilfeniveau. In Zehlendorf ist es nur jeder elfte. Julia Naumann