Der Blick durchs Schlüsselloch

Ob ich da etwa wirklich hinginge, um mir dieses „Pfaffengewäsch“ anzuhören, fragten meine Freunde aus dem taz-Sympathisantenspektrum ungläubig (aber nicht uninteressiert), als wir Anfang der Neunziger im Berliner Lokalteil der taz damit begannen, regelmäßig die Sonntagspredigten zu rezensieren. Das klang ein bißchen so, als fragten sie mich, ob ich regelmäßig in den Puff gehen würde. Tatsächlich bin ich in dieser Zeit jeden zweiten Sonntag in aller Herrgottsfrühe dem Glockengeläut entgegengelaufen. Ich habe mir sogar eine Bibel gekauft und mich mit den Eigenheiten des evangelischen Kirchenjahres vertraut gemacht. Ich habe mich mühsam an die Rituale des Gottesdienstes (Aufstehen, Hinsetzen, Aufstehen ...) erinnert und auch sonst versucht, möglichst wenig aufzufallen. Einmal, an „Cantate“, habe ich sogar mitgesungen: „Danke für diesen guten Morgen“. Das war natürlich ironisch gemeint, auch wenn das im Stuhlkreis niemand gemerkt hat.

Der heikelste Moment kam aber immer am Schluß: Wenn die Glocken das Ende einläuteten und der Pfarrer mir schließlich am Portal zum Abschied lächelnd die Hand zum Frieden anbot. Genau an dieser Stelle hatte ich das unangenehme Gefühl, bei etwas Ungehörigem ertappt worden zu sein. Eine Stunde lang hatte ich durch ein Schlüsselloch in eine mir verschlossene Welt geschaut, und nun machte der Pfarrer auf der anderen Seite freundlich die Tür auf. „Ich würde mich freuen, Sie nächste Woche wiederzusehen“, sagte er arglos. „Wenn du wüßtest!“ dachte ich und tastete nach meinem Notizblock in der Jackentasche.

Wir haben die predigtkritische Rubrik bald wieder eingestellt. Allzusehr ähnelten sich die eilig erhaschten laienhaften Beobachtungen, zu offensichtlich lebten die Texte von armen Pointen und vom billigen Spott denjenigen gegenüber, die an etwas anderes glaubten als wir. Statt sich auf die Motive der Gläubigen (oder gar des Glaubens!) einzulassen, hatten wir nur die Pfarrer von oben herab abgekanzelt. Kurzum: Wir hatten dem, was wir so gerne mit spitzer Feder als „Pfaffengewäsch“ entlarvt hätten, Polemik entgegengesetzt.

Wenn sich die taz mit Kirche beschäftigt, meint sie in aller Regel die Amtskirche, nicht die Gläubigen – und erst recht nicht den Glauben. Deshalb sind wir hier so stark, pardon: finden wir hier so starke Worte. Zweimal wurde die taz bisher offiziell vom Presserat gerügt. In beiden Fällen ging es im weitesten Sinne um die Verletzung religiöser Gefühle. Ein Kavaliersdelikt? Wohl kaum. Zumal wir in den letzten Jahren, bei aller Aufmerksamkeit für den Papst, Jesus und das Kruzifix, kaum mehr als aus der flüchtigen Schlüssellochperspektive über die Kirche der Gläubigen und die Christen an der Basis berichtet haben.

Als die taz in diesem Frühjahr in Freiburg zum Eat-in an der B 31 geladen hatte, eröffnete der dortige Pfarrer Hans Pfeifer das Frühstück ganz selbstverständlich mit einem Gottesdienst. Für viele unserer LeserInnen paßt das offenbar ganz gut zusammen – Gott und die taz.

Auch unsere Predigtkritiken waren seinerzeit ganz anders angekommen, als wir es uns gedacht hatten. Ausgerechnet die so rüde Kritisierten selbst begrüßten unser Tun. „Ich freue mich, daß ,meine taz‘ nun endlich in einen wenn auch etwas polemischen Dialog mit ,meiner Kirche‘ tritt“, schrieb mir ein Berliner Pfarrer und lud mich herzlich ein, an einem Sonntag meiner Wahl auch seine Predigt zu kritisieren.

„Ihr geht da wirklich hin?“ fragen heute wieder viele, wenn sie hören, daß die taz in diesem Jahr mit einer achtseitigen Sondernummer zum Evangelischen Kirchentag nach Leipzig fährt. Ja, diesmal schauen wir nicht nur durchs Schlüsselloch, sondern fahren einfach hin. In Leipzig sind wir mit einem Stand auf dem Markt der Möglichkeiten vertreten (Neue Messe, Halle 4, Stand 48N).

Solange wir nicht mitsingen müssen... Klaudia Brunst