Arbeit im Weinberg des Staates

■ Die Suche nach Gerechtigkeit: „Nacht über Manhattan“ von Sidney Lumet

Jeder fängt mal klein an. Kehrt sich als neuer Besen eifrig die blanken Borsten krumm, ist bald schrecklich enttäuscht vom Leben und agiert später, wenn's gut geht, pragmatisch. Sean Casey (Andy Garcia) putzt als junger Staatsanwalt die untersten Stufen am Denkmal Justitias. Routinefälle, Schnellverurteilungen, so sieht seine Siebentage-Arbeitswoche aus.

Bei Seans erstem Plädoyer vor Gericht schläft der Richter ein. Seans Vater ist Polizist. Weil er im Alleingang einen berüchtigten schwarzen Dealer und Killer hochgehen lassen will, sieht er bald aus wie ein Sieb – Auslöser für ein Dramolette um Integrität, Protektion und Korruption in der Polizei. Der Newcomer Sean soll, ungewöhnlich genug, bei dem politisch brisanten Fall – ein Polizistenmörder aus Harlem – die Anklage vertreten; bald begreift er seine Funktion als Manövriermasse.

„Nacht über Manhattan“ ist ein „City Hall“ im Polizeirevier, ein moralisches Vexierspiel zwischen Vater und Sohn, zwischen Partner und Partner. Was am Ende dabei herauskommt, hat viel von der Jesuitenaltersweisheit, die auch andere amerikanische Justizfilme der vergangenen Jahre ziert. Wenn der Gerechtigkeit nicht durch das Gesetz zum Recht verholfen werden kann, heiligt der Zweck die Mittel. Merke: Was tut ein kleiner Cop nicht alles, um einen Gangster zu schnappen.

Der Konflikt entspannt sich zwischen abstrakten Idealen und konkreten Möglichkeiten. Moral entscheidet sich letztlich nicht am Gegenstand, sondern in der Wahl von Strategie und Taktik. In „Nacht über Manhattan“ arbeitet Sidney Lumet aus der Ameisenperspektive.

Die Arbeit von Polizei und Justiz wird gezeigt, wie sie wohl ist, meist langweilig und nur manchmal gefährlich, dann aber auf Leben und Tod. Man sieht Sean vor seinem großen Tag vor Gericht in der kleinen Wohnung, wie er das weiße Hemd bügelt und den Anzug zurechtlegt.

Der Tod überrascht tapsige, nicht übermäßig helle Männer in Uniform – Irren ist menschlich, sie schießen schon mal die eigenen Leute vom Dach – wie der Regen die Wüste. Es ist nicht ganz klar, ob ihr Dilettantismus nun echter filmischer Realismus sein soll oder einfach nur bescheidener Schauspielerbegabung zuzuschreiben ist.

Neben der Detailverliebtheit essentiell für Lumets Film ist das jüdisch-irische Setting, das Die- Straße-kennen des ehrlichen Arbeiters im Weinberg des Staates. Manchmal wird es einem zuviel, das Jiddischtun, das permanent cholerische „Boytschik“-Gesulze von Bezirksstaatsanwalt Morgenstern – diese ärgerlich redundante Übersetzung von Lumets Sichabarbeiten an den eigenen jüdischen Wurzeln.

Sidney Lumet ist kein Anfänger mehr, wird aber immer wieder wie einer behandelt. Man mißt ihn, ähnlich wie Coppola, einzig an der Handschrift seiner spektakulären Erfolge, an „Die zwölf Geschworenen“, „Serpico“ und „Network“, nicht etwa – das wäre doch mal realistisch und ehrlich – an „Mord im Orient-Express“. Dabei hatte Lumet nie was am Hut mit den Begrenztheiten der „Auteur“-Schublade.

Sidney Lumet wollte im Gegenteil nie zweimal das gleiche bringen in seinen Filmen, ein Vorsatz, dem er mit „Nacht über Manhattan“ zumindest thematisch (siehe „Prince Of The City“ etc.) untreu geworden ist. Vierzig Filme hat Lumet gedreht, fünfunddreißig davon sollen, so wollen es jedenfalls die Hüter der Goldenen Filmqualitätsnadel erster Klasse am Band, Flops sein.

Unterm Strich funktioniert aber auch „Nacht über Manhattan“. Andy Garcia mag kein großartiger Schauspieler sein, und Richard Dreyfuss hat auch schon bessere Tage gesehen, doch allein jene Szene im Gerichtssaal, als die Kamera auf die Geschworenen schwenkt, hat mich mit allen Klischees versöhnt. Da sitzen sie: alte, dicke Männer in karierten Hemden, feingemachte Hausfrauen mit erbarmungswürdigem Make-up – graugesichtiger Mittelstand auf dem Weg nach unten. Am Ende steht Sean Casey selbst vor einem neuen Jahrgang Staatsanwälte, mit Mitte Dreißig ein alter, abgeklärter Mann.

Wir hingegen halten es mit dem Corel Movieguide: „Sogar ein zweitklassiger Lumet ist besser als alles Erstklassige von anderen Regisseuren.“ Anke Westphal

„Nacht über Manhattan“. Regie: Sidney Lumet. Mit Andy Garcia, Richard Dreyfuss, Ian Holm, Lena Olin. 113 Min., Farbe. USA 1996