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■ Frankreich: Großrazzia gegen Kinderporno-KonsumentenDer Feind, den man zu hassen liebt

Drei des sexuellen Mißbrauchs bezichtigte Familien können nach dem spektakulären Freispruch von Mainz nun versuchen, ihr Leben zu rekapitulieren. Die Kinder, die jahrelang in Heimen untergebracht waren, können reintegriert werden. Währenddessen fand in Frankreich eine beispiellose Polizeiaktion statt. 2.500 Gendarmen waren am Dienstag um sechs Uhr früh ausgeschwärmt, um bei 800 Kunden eines Korrespondenzvertriebs von Videokassetten Hausdurchsuchungen durchzuführen. Gegen 72 wurde bereits Anklage erhoben; sie sollen Mitglied der Gesellschaft „Toro Bravo“ sein, die angeblich in Bogotá kinderpornographische Filme dreht. Weitere 400 der Festgenommenen befinden sich noch in Haft.

Unheimlich an dieser Aktion ist vor allem das stillschweigende Einverständnis, auf das sie überall – von Le Monde bis Libération – rechnen konnte. Das wundert vielleicht nicht, wenn man weiß, daß der Leiter von Toro Bravo, Michel Caignet, ein guter Freund des deutschen Neonazis Michael Kühnen war und seit Jahren Mitglied antisemitischer und rechtsradikaler Organisationen wie dem „Netzwerk Europäische Bewegung“ (FNE) ist. Kinderschänder und Nazi – ein Feind, den man zu hassen liebt. Auch die Tatsache, daß die Gefilmten aus Bogotá stammten, wird den Pädophilen in der liberalen Presse nicht geholfen haben: auch noch Ausbeutung von doppelt Abhängigen, minderjährig und aus der Dritten Welt! Ganz selbstverständlich zitiert Le Monde jemanden als verdächtig, weil er China, Ägypten und Thailand bereist für Spartacus – einen weltbekannten Schwulenführer, der absolut nichts mit Pädophilie zu tun hat.

Es wundert aber schon, wenn man sich klar macht, daß höchst zweifelhaft ist, was man sich unter Kinderpornographie eigentlich vorzustellen hat. Die Rede ist von 15jährigen, sogar 18jährigen, die Rede ist von „laszivem Posieren“, von Erektionen, vom Masturbieren, von FKK-Bildern, Fellatio und schließlich echtem Verkehr – also kaum von dem, was einem zum Horrorwort „Kinderpornographie“ einfallen soll.

Aufgerufen zur großen Hatz hatten Organisationen mit sprechenden Bezeichnungen wie „Enfance majuscule“ (Kindheit großgeschrieben) und ein Verein katholischer Familien. Sie fordern Zusatzstrafen – den Hauptangeklagten erwarten bereits zehn Jahre und 5 Millionen Franc Strafzahlung. Wünschen wir Frankreich wenigstens eine Justiz wie in Mainz, die den Kopf oben behält. Mariam Niroumand

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