■ Die Grünen müssen sich trauen, auch über materiellen Verzicht zu reden. Eine Antwort auf Karl Martin Henschel
: Die fetten Jahre sind vorbei

Ein öffentlicher Diskurs über Verzicht schwächt die Grünen. Diese These hat Karl Martin Henschel, Grüner aus Schleswig-Holstein, neulich in der taz vertreten. Nun ja. Was aber ist, wenn die Wachstumsideologie, ganz unabhängig von der grünen Debatte, an ihre Grenzen stößt? Die Regierung Kohl ist mit ihrer Haushaltspolitik am Ende, wenn nicht durch einen Wirtschaftsaufschwung die Steuern wieder vermehrt sprudeln. Und die Kriterien für den Euro werden nur erreicht, wenn mit viel Glück die Konjunktur wieder anspringt. Auch mehr Arbeitsplätze gibt es nur, wenn der wirtschaftliche Aufschwung kommt.

So erleben wir derzeit angesichts der Wirtschaftskrise einen neuen Boom der Wachstumsideologie. Wachstum als ewiger Schlüssel zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme, verknüpft mit einer übergroßen Technikgläubigkeit und einer Philosophie von der Natur als unerschöpfliche Quelle, die sich der Mensch zu Diensten machen soll. Der alte Gesellschaftsvertrag lautet: Der Kuchen wächst ständig, und dabei fällt für alle, mehr oder weniger, etwas ab. Vollbeschäftigung wird erhalten, indem die wachsende Produktivität ausgeglichen wird durch höheren Konsum. Waigel und Clement, Rexrodt und Schröder ziehen, trotz aller Unterschiede, in diesem Punkt an einem Strang. Reichen tut es immer noch nicht, und es ist gar nicht so unwahrscheinlich, daß dies auf absehbare Zeit auch so bleibt.

Im Grunde wissen viele im geheimen, daß die satten, fetten Jahre vorbei sind. Dadurch aber werden die Verteilungskämpfe härter, denn jetzt heißt das Thema nicht mehr „Jedem etwas mehr“, sondern „Was ich dem einen gebe, muß ich dem anderen nehmen.“ Es geht dabei auch nicht nur um die soziale Gerechtigkeit im Hier und Jetzt, sondern um globale Gerechtigkeit und um Gerechtigkeit für zukünftige Generationen. Unter dieser Voraussetzung lautet die Zukunftsaufgabe: Wie kann auch ohne große wirtschaftliche Wachstumsraten der Zusammenhalt der Gesellschaft bewahrt werden? Dann allerdings muß sich die Logik der Reformansätze fundamental ändern.

Dabei können die Ökologen positive Denkanstöße einbringen. Denn die grüne Bewegung hat von vornherein die Endlichkeit mitgedacht. Die Endlichkeit der Ressourcen, die Endlichkeit der Fähigkeit der Erde, menschlichen Abfall zu verwerten, die Endlichkeit des Wirtschaftswachstums, die Grenzen der Technik. Mit dem Thema Umweltschutz hat sie auch einen neuen Blick auf die Welt entwickelt. Als die Jüngste der großen gesellschaftlichen Strömungen kann die grüne Bewegung deshalb auch Anregungen geben für die Politikfelder Arbeit, Finanzen und Sozialstaat – und zwar gerade in einer Zeit, in der der Kuchen auch aus ökonomischen Gründen nicht immer weiter (zumindest nicht ausreichend) wächst und aus ökologischen Gründen in den alten Industrieländern der Ressourcenverbrauch um 80 Prozent reduziert werden muß.

Doch seit der Nachkriegszeit hat das Wundermittel Wirtschaftswachstum in der BRD blendend funktioniert. Und das verzweifelte Festhalten an diesem vermeintlichen Patentrezept blockiert das Nachdenken jenseits der Wachstumsideologie. Der alte Gesellschaftsvertrag jedoch trägt nicht mehr, wir brauchen einen neuen. Wo sind die Reformkonzepte der Parteien, wie man Arbeitslosigkeit, Haushaltsverschuldung und die Krise des Sozialstaates auch ohne Wirtschaftsboom überwinden kann? „Keine weitere Haushaltsverschuldung“, „Umstellung des Sozialsystems auf Bedarfsorientierung“, „Teilung der verfügbaren Arbeit“, müssen unsere Antworten auf das Ende der fetten Jahre der alten Bundesrepublik sein.

Diesen Weg müssen wir aber, wenn wir zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise kommen wollen, noch entschiedener beschreiten. „Die Krise der Industriegesellschaft und die Krise der Ökologie fordern die gleiche Lösung: statt Wachstum um jeden Preis Verteilung. Verteilung der Arbeit, Verteilung der Einkommen. Verteilung der gesellschaftlichen Aufgaben“, so Marie-Luise Beck in der taz vom 23.1. 1996. Es gilt eben auch für die Besitzer der Arbeit: Abgeben, damit für alle was da ist. Damit ist auch eine Richtung für die Zukunft des Sozialstaates gewiesen: Umverteilung innerhalb der bestehenden Sozialsysteme mit einer stärkeren Bedarfsorientierung der sozialen Leistungen, also Leistungen nur für besonders Bedürftige und nicht als Anspruch für alle, die in das Sozialsystem einzahlen. Aber auch die Aktivierung der sozialen Ressource Solidarität, gestärkt durch flankierende professionelle Hilfe, ist eine Zukunftsaufgabe.

Die Menschen (wohlgemerkt, nicht nur die Frauen, sondern alle) gewinnen durch die neue Arbeitsteilung mehr Zeit für die Rücknahme von Arbeit, die in letzter Zeit zunehmend von den Familien (hier genauer von den Frauen) auf den Staat übertragen wurden: Das Leben mit Kindern und mit der älteren Generation kehrt zurück in den Alltag. Der Sozialstaat übernimmt dabei Hilfe zur Selbsthilfe, unterstützt Menschen, die Kinder oder Kranke betreuen. Dies muß durchaus nicht der Rückfall in die Familie der 50er Jahre bedeuten.

„Warum organisieren wir die Lebensarbeitszeit nicht so, daß mittels echter Teilzeitarbeit auf allen Ebenen der Hierarchie für Mann und Frau im Familienalter die Möglichkeit besteht, sich für die Kinder und die Familie zu entscheiden, ohne allerdings im Beruf und in der Karriere abgehängt zu werden und als Leistungsverweigerer zu gelten? Warum soll es nicht auch die Möglichkeit geben, Zeit durch Mehrarbeit anzusparen und für einige Zeit auf Einkommen zu verzichten und dafür andere Dinge jenseits der Arbeit zu tun?“ Das fragt Joschka Fischer im Spiegel 4/96: Bildung, Reisen, Familie, faul sein.

Und daher stellt die jetzige Situation der wirtschaftlichen Krise, der Zielforderung des Maastrichtvertrages zur Stabilisierung der Haushalte und die Krise der Sozialsysteme auch eine Chance dar. Allerdings nur, wenn die Denkblockaden überwunden werden.

Selbstverständlich heißt das nicht, daß die Vorschläge zur ökologischen Strukturreform und zur ökologischen Innovationsoffensive, die Henschel einfordert, nicht richtig sind. Auch wenn Widersprüche zwischen dem Innovations- und dem gesellschaftskritischen Ansatz nicht ausgeschlossen sind, ergänzen und befördern sie sich doch gegenseitig. Also Schluß mit dem Entweder-Oder. Viele Wege führen nach Rom. Michaele Hustedt