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Früher war alles anders

Nachbar Herbert ist gut drauf: Die Vergangenheitsbewältigung ehemaliger Kleindealer ist aufschlußreich und kurz vor zehn beendet  ■ Von Volker Wartmann

Mein Nachbar Herbert ist Anfang dreißig und gut drauf: weil er glücklich verheiratet ist, zwei tolle Kinder und einen verantwortungsvollen Job als Ingenieur bei einer bedeutenden Kommunikationsfirma hat, nicht raucht, nur ganz wenig trinkt und vor allen Dingen seit einigen Jahren nicht mehr kifft, sagt er. Ganz anders als früher...

Zum Einkaufen ist er damals immer nach Amsterdam gefahren, und zwar mit dem örtlichen Busunternehmen PRUS (Prima Reisen Und Sparen), das seinerzeit Wochenendfahrten in die holländische Hauptstadt veranstaltet hat – für 39 Mark. Inmitten der sich zu rund 90 Prozent im Rentenalter befindenden Wochenendtouristen war der Transport der Rauchwaren eine absolut sichere und unauffällige Sache. Bei der Ankunft war Herbert so manches Mal recht schlecht. Mal hatte ihn Oma Schulz (76) mit Süßigkeiten überhäuft, mal saß er neben Opa Maimann (72), der sich so gerne mit jungen Leuten unterhielt – bevorzugt über seine Schilddrüsen-Fehlfunktion – und dabei seinem Gesprächspartner mit dem Gesicht etwas sehr nahe kam. Und Oma Harms (68) zeigte ihm auf beinahe jeder zweiten Fahrt immer wieder begeistert und gerne Fotos ihrer lieben Enkelkinder. Was die Omas und Opas wohl so oft in Amsterdam wollten, hat sich Herbert damals schon des öfteren gefragt. Im Laufe der Zeit sank das Durchschnittsalter der Wochenendreisenden deutlich. Als Herbert immer öfter während der Fahrt neben Gleichaltrigen saß, hat er den Stoff dann doch lieber wieder auf anderen Wegen besorgt. Herbert versuchte sich auch als Home-Grower. Seine Mutter pflegte seine Pflanzen gewissenhaft, wenn er im Urlaub war. Als diese dann aus unerklärlichen Gründen einmal die Köpfe hängen ließen, fragte Mutter im örtlichen Gartencenter um Rat. Nach kurzer Betrachtung der Pflegefälle gab ihr der Gärtnermeister einige sachdienliche Hinweise. Hochroten Kopfes und sichtlich verwirrt machte Muttern sich wieder auf den Heimweg. Seitdem fuhr sie für den Kauf von Gartenzubehör immer in den Nachbarort.

Verkaufsplätze gab es in Herberts Nachbarort einige in der Szene bekanntere. Er bevorzugte den gegenüber der örtlichen Polizeiwache. Einige Polizisten begrüßten ihn im Laufe der Zeit auf ihrem Weg zur Nachtschicht sogar: „Hallo, wie geht's?“ und „Heute abend schon wieder hier?“ Nach einigen Monaten kannte Herbert auch drei der freundlichen Staatsdiener beim Namen. „Guten Abend, Herr Müller.“ „Guten Abend, Herr Schwarzkopf.“ „Schönen Gruß an die Frau Gemahlin.“ Von Hauptkommissar Gammsel ist er sogar mal während der WM zum Fußballgucken im Bereitschaftsraum eingeladen worden. An diesem Platz war der Umsatz immer deutlich am besten und die Atmosphäre am freundlichsten, erzählt Herbert.

Vom Erzählen bilden sich bei Herbert langsam Speichelfäden in seinen Mundwinkeln. Ich frage ihn, ob ihm denn nicht das Wasser im Munde zusammenläuft, wenn er so erzählt, und er nicht mal wieder Lust aufs Rauchen bekommt. Herbert schüttelt den Kopf und holt ein paar Fotos von früher aus der Schreibtischschublade. Mein Gott! Herbert sah früher aus wie der kleine Bruder von Quasimodo. Aber daß man vom Rauchen so aussehen kann, geht nicht in meinen Schädel.

Der Abend mit Herbert ist kurz vor zehn zu Ende – wie eigentlich fast immer. Herbert ist müde. Er muß morgen früh wieder raus. Das Leben ist manchmal hart, aber so schön, sagt Herbert. Und kiffen macht doof. Aber darüber will ich heute abend nicht mehr nachdenken. Ich gehe nach Hause. Dort angekommen, schaue ich als erstes in den Spiegel.

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