Invalide unter Gesunden

Rußland ist erstmals bei einem Gipfel der reichen Industrieländer dabei. Die Marktwirtschaft wurde dort aber noch nicht gesichtet  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Während der Kreml bemüht ist, eine Art Show aus Rußlands neugewonnenem Platz am Tisch der großen Wirtschaftsnationen zu machen, fragen sich die RussInnen, was sie denn von den G 7 tatsächlich erwarten dürfen. Die Wochenzeitung Obschtschaja Gaseta sagte es am Donnerstag deftig: „Da Rußland eine Masse ungelöster Probleme im Gepäck mitbringt, eine stagnierende Wirtschaft und eine stets wackelnde Regierung, sieht es bei diesen Treffen wie ein Invalide unter lauter vor Gesundheit strotzenden Burschen aus.“

Bekanntlich möchte die Russische Föderation mit Unterstützung der bisherigen G-7-Staaten auch seine Aufnahme in die Welthandelsorganisation beschleunigen. Bisher scheiterte sie an dem Unvermögen einiger westlicher Staaten und Japans, in Rußland so etwas wie eine Marktwirtschaft zu sichten. Zwar sind inzwischen 70 Prozent aller russischen Betriebe privatisiert. Da sich jedoch der Großteil der Aktien in der Hand der ehemaligen Bosse befindet, folgen ihre Beziehungen untereinander noch den alten Monopolstrukturen. Der russische Markt behindert so die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft.

Die hohe Korruption unter Beamten und die fast völlig fehlende Bereitschaft, Steuern zu zahlen, bilden auch nicht gerade Demokratieindikatoren. All diese Bedingungen zusammen haben jetzt erneut zu einer Verschärfung der russischen Haushaltskrise geführt. In den ersten beiden Monaten dieses Jahres gelang es der Regierung nicht einmal, die Hälfte der geplanten Einnahmen zu erzielen. Selbst optimistische Experten schätzen, daß sich das 1997 auf 420 Billionen Rubel angesetzte Jahreseinkommen der Föderation nur auf etwa 300 Billionen belaufen wird. Die Verzögerung von Gehaltszahlungen für Lehrer, Forscher und das Personal im Gesundheitswesen konnte Anfang des Jahres von im Schnitt neun auf vier Wochen gesenkt werden. Schon in der zweiten Jahreshälfte wird sich der Staat allerdings – wenn kein Wunder geschieht – gegenüber Rentnern und Beamten wieder auf dem alten Fleck befinden.

Besonders trübe ist das Bild, das die russische Landwirtschaft bietet. Seit 1991 sank ihre Produktion um 47 Prozent und fuhr im vorigen Jahr 16 Billionen Rubel Verluste ein. Dennoch wird in der Russischen Föderation offenbar allerhand produziert, das – zusätzlich zu den reichen Rohstoffressourcen – die Ausfuhr lohnt. Die Außenhandelsbilanz war in den letzten Jahren stets positiv. Von 1994 bis 1995 stieg der Überschuß sogar um dramatische 38,5 Prozent.

In Denver fällt Anatoli Tschubais, dem stellvertretenden Ministerpräsidenten und Vater der russischen Privatisierung die Rolle einer Loreley zu: Er soll die G-7-Verteter vom Kurs der Finanzhilfe für Rußland hinüberlocken ins Investitionsfahrwasser. Im Prinzip dürfte das auf offene Ohren treffen. Investoren werden aber noch von einem verzopften Steuer- und Tarifsystem gehindert, profitabel im Inland zu fabrizieren.

Einen weiteren Silberstreifen gibt es noch am Horizont. Die G-7-Staaten sind geneigt, Rußlands Anerkennung als Kreditorennation im sogenannten Pariser Club zu befürworten. Das Land dürfte dann Unterstützung bei der Eintreibung jener 140 Milliarden Dollar erwarten, die andere Staaten ihr noch aus Sowjetzeiten schulden. Vielleicht würde dadurch das eine oder andere Problem lösbar.