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„Um uns herum brannten die Häuser“

■ Ein damals dreizehnjähriger Junge* berichtet über das Massaker von Ahmici, das am 16. April 1993 wahrscheinlich 123 Menschen das Leben kostete

„Der 15. April war ein normaler Tag wie jeder andere auch. Ich kam aus der Schule, es waren Gäste da, nichts deutete auf etwas Ungewöhnliches. Am Morgen des 16. April wachte ich wegen einer Explosion auf, so um 5.40 Uhr. Wir haben aus dem Fenster gesehen. Um uns herum brannten die Häuser.

Mein Vater ist auf den Balkon gegangen. Der nächste Nachbar, ein Kroate, der einige Häuser unterhalb unseres Hauses wohnte, hat von unserem Stall aus auf meinen Vater geschossen und ihn am Bauch verwundet. Es fielen weitere Schüsse, alle Fenster gingen kaputt. Um sieben Uhr haben wir gehört, wie sie die Tür zum Keller aufbrachen, dann sind sie nach oben gekommen, haben die Tür aufgebrochen und befohlen, die Frauen und Kinder sollten auf den Balkon gehen.

Unter den Eindringlingen waren zwei Nachbarn, der eine, der auf Vater geschossen hatte, der heißt Dalibor Calić, und der zweite hatte den Spitznamen Cico, vier weitere waren mir unbekannt. Sie zwangen den verwundeten Vater aufzustehen. Meine Mutter stand nur da und hat geweint.

Dann mußten wir alle nach unten gehen. Nachbar Cico ist zurück in das Haus gegangen und hat es angezündet. Wir sind in einen Hof gekommen, da waren viele andere muslimische Nachbarn versammelt, alle Häuser um uns herum haben gebrannt. Hinter den Ställen sah ich noch ungefähr 20 maskierte Männer herumstehen, alle mit dem Abzeichen der Joker, dieser Spezialeinheit der Kroaten. Cico befahl uns, in die Garage eines Nachbarn zu gehen. Mein Vater hat geweint und uns bedeutet zu gehen. Wir waren in der Garage 29 Leute, Frauen und Kinder aus muslimischen Familien. Sie schlossen die Türe zu, dann hörte man draußen Schüsse.

Sie öffenten die Tür, und eine Frau mit einem Kleinkind wurde zu uns hineingeworfen. Dann hörten wir wieder Schüsse. Die Frau hatte noch gesehen, wie sie ihren Mann und ihren Sohn umgebracht haben, bevor die Tür wieder verschlossen wurde. Sie weinte und erzählte, daß draußen viele Tote lagen. Wir waren den ganzen Tag in der Garage, um vier Uhr nachmittag, wir waren 31 Personen.

Vier Leute – nicht maskiert, drei waren kroatische Nachbarn, Nivica Semeren, Zoran, den Nachnamen kenne ich nicht, Drazen Vidović – haben nach einigen Stunden die Türen aufgemacht, sie haben uns erlaubt, Wasser zu holen. Alle trugen das Zeichen der Joker an den Ärmeln. [...]“

Die Joker brachten die Gefangenen in den Kellerraum eines anderen Hauses. Auf den Weg dahin konnten sie noch vier Tote auf dem Hof des Hauses der Familie des Jungen sehen.

„...Am nächsten Morgen haben wir kroatische Nachbarinnen gesehen und zu uns gerufen, sie kamen auch. Aber sie wollten uns nicht in ihre Häuser mitnehmen, sie sagten, auch sie hätten Angst vor den Jokern. Um 10 Uhr vormittags am 17. April sind einige Männer wiedergekommen, um uns in ein anderes Haus zu überführen. Ich erkannte Mirko Brebac und seinen Sohn, die brachten uns in den leeren Verkaufsraum eines Ladens. Andere Frauen und Kinder aus Ahmici wurden zu uns geführt. Es kamen auch vier Männer zu uns, Muslime. Sie sollten die Leichen aufsammeln, sie sagten noch zum Abschied, nach getanener Arbeit würden sie wohl auch umgebracht werden. [...]“

Am Nachmittag kamen zwei oder drei UNO-Transporter, sogenannte APC, in das Dorf. Mehreren Frauen gelang es, zu den UN- Leuten hinzulaufen.

„...Die UNO-Fahrzeuge standen dort und warteten, die Frauen zeigten ihnen ihre Kinder, gestikulierten. Eine der Frauen konnte etwas Deutsch und rief ihnen etwas zu. Dann kam aber Ivica Vidović und hat die Frauen zurückgebracht. Er ging zu den Blauhelmen und sprach mit ihnen. Dann fuhren die Blauhelme davon und kamen nicht mehr zurück. [...]“

Die Gruppe, die inzwischen rund 100 Menschen umfaßte, verbrachte die Nacht vom 17. auf den 18. April in Todesangst. Am Morgen schließlich kam der Befehl, in einer Kolonne loszugehen. Die Kolonne bog auf die Straße Richtung Vitez ein, UNO-Truppentransporter und Autos der internationalen Hilfsorganisatioonen fuhren vorbei, ohne sich um die Gefangenen zu kümmern. Auch ein kroatischer Freund der Familie aus Vitez saß in einem der vorbeifahrenden Autos. Er hielt an, als er die Mutter und ihre Kinder erkannte, und lud sie trotz der Proteste der bewaffneten Joker in sein Auto. Er brachte die Familie nach Vitez. Dort jedoch war ebenfalls die „ethnische Säuberung“ in vollem Gange, Soldaten der kroatischen HVO durchsuchten Häuser und verhafteten Muslime. Die Familie blieb einige Tage in ihrem Versteck und wurde schließlich von einem anderen kroatischen Bekannten an die Frontlinie Richtung Zenica gebracht. Erst im bosnisch-muslimisch kontrollierten Territorium waren sie in Sicherheit.

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