Die Fremden in einem brandenburgischen Dorf

■ Winterfeld wird ab Anfang 1990 zur neuen Heimat für jüdische Emigranten aus der Sowjetunion. Wie reagierten die Alteingesessenen? Eine ethnologische Studie

„Eine Gruppe von Flüchtlingen trifft in einem ostdeutschen Dorf ein. Es sind 70 russische Juden, die ab Oktober 1990 in Winterfeld, einem Ort im Südwesten der soeben aufgelösten DDR, untergebracht werden.“ So beginnt Susanne Spülbeck, Ethnologin am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin, ihre Studie „Ordnung und Angst“. Ihr Thema: Wie reagierten die 1.600 DorfbewohnerInnen auf die Neuankömmlinge und warum? Der Ort Winterfeld heißt in Wirklichkeit nicht Winterfeld, alle Namen, Berufsangaben etc. sind anonymisiert, es geht um Vorurteile und wie sie entstehen und ganz besonders in einem Land, in dem alles reglementiert war.

Die Welt der Ordnung ist auch eine Welt der Angst. Was überschaubar ist, wird durch „Eindringlinge“ bedroht. Daraus entsteht Fremdenfeindlichkeit, die Autorin zeigt dies sehr genau. Wer nun aber vorschnell vermutet, im Dorf sei offen gegen die Dazugezogenen gehetzt worden, bekommt anderes zu lesen. Denn Susanne Spülbeck horcht auf die Zwischentöne, um mögliche Vorurteile der Alteingesessenen gegen die Neuzuwanderer herauszufiltern.

Das macht Sinn, weil gerade der Antisemitismus oft im Unterschwelligen erkennbar wird, das macht auch Sinn, weil es sich um einen Ort in der ehemaligen DDR handelt, das von Spitzeleien durchzogen war. Man sagt nicht frei heraus, was man denkt – auch nach der Wende nicht, meint Spülbeck, aber die Gedanken sind da, und an ihnen muß man Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus messen. „Vor der Kulisse der Angst“ spielt sich die Kommunikation ab.

In dieser Situation mußte die Ethnologin tatsächlich im Ungesagten suchen. Denn als die russisch-jüdischen Flüchtlinge neu ankamen, sprach man in Winterfeld noch interessiert über sie – als vorbildhaft schilderte die Presse den Ort. Dann kam Hoyerswerda und die den Skins Beifall klatschende Menge. Nach den Pogromen wurden in Winterfeld das Thema tabuisiert. Es fielen nur noch Andeutungen und vage Unterstellungen, die uralte und deutlich antisemitische Stereotypen verrieten: Die Juden würden mit unkontrolliertem Handel ihr Geld verdienen, sich nicht an Vorschriften halten, seien zur Seßhaftigkeit nicht bereit. Damit durchbrachen sie Werte, die die DDR hochgehalten hatte, die überschaubare Ordnung. Die Vorwürfe gegen die neuen Dorfeinwohner blieben immer nebulös, selbst die Anschuldigung des Waffen- und Drogenhandels. Eine Anzeige wurde nie erstattet. Die Phantasien drifteten mehr und mehr von der Wirklichkeit ab, wurden aggressiv. „Ein Punkt war erreicht, an dem die Juden ,abgeholt‘ hätten werden können.“

Aber die Westdeutsche, die im Dorf nähere Bekanntschaften schloß, sieht auch andere Themen, die der antisemitischen und fremdenfeindlichen Haltung ähneln. Dieselbe mitschwingende Angst hört sie heraus, wenn es um die Stasikrake im familiären Bereich, zum anderen, wenn es um Hexerei geht. Hexen, Hexerei, Hexenwahn beschäftigen die Winterfelder seit jeher, und sie erzählen sich immer noch Geschichten von einer Hexe, die früher im Dorf auftauchte und Unheil brachte. Andeuten, ausweichen, schweigen – ob über Hexen oder Juden, es geschieht auf gleiche nebulöse Weise.

Die Autorin klammert sich bei ihrer Feldforschung nicht aus. Das könnte eine methodische Stärke sein, wenn die persönlichen Erlebnisse ihr nicht am eindrucksvollsten geraten wären. Oft sind sie der einzige Faden im Text, an dem der Leser sich entlanghangeln kann. Die Studie enthält zu viele Einzelheiten, deren Ordnung schwer erkennbar ist. Leider nur angeschnitten ist der Einfluß der Massenmedien auf die Dorfbewohner und der Vergleich mit der Reaktion auf die rußlanddeutschen Aussiedler. Mareile Ahrndt

Susanne Spülbeck: „Ordnung und Angst. Russische Juden aus der Sicht eines ostdeutschen Dorfes nach der Wende“, Campus Vlg. Frankfurt/M. 1997, 298 S., 58 DM