■ Europapolitik ist die Kunst des Unmöglichen. Wer sie sich effizienter wünscht, der legt einen autoritären Maßstab an
: Gipfelsturm und langer Marsch

In der Europapolitik sind keine Lorbeerkränze zu gewinnen. Den einen geht die Integration zu schnell, den anderen zu langsam. Da Vertreter beider Auffassungen an allen Entscheidungen beteiligt sind, bleibt jedes Verhandlungsergebnis unter beiden Gesichtspunkten kritikabel. Politik sei die Kunst des Möglichen, heißt es. Europapolitik ist die Kunst des Unmöglichen.

„Der Gipfel der Reförmchen“ ist ein Kommentar von Andreas Oldag (Süddeutschen Zeitung vom 18. Juni) überschrieben. Der Titel gibt den Tenor der Berichterstattung im allgemeinen wieder. Daß der Gipfel von Amsterdam als Abschluß der Regierungskonferenz von 1996 eben dies und nicht mehr sein würde, wußte jeder, der die Arbeiten dieser Regierungskonferenz über die Monate ein bißchen verfolgt hatte. Aber Oldag hält sich an das Kohlsche Präludium, in dem dieser als Leitmotiv angeschlagen hatte, Amsterdam würde ein voller Erfolg werden. Dabei bleibt Kohl natürlich auch nach dem Gipfel. Denn anders als der Kommentator wußte er, „daß das zum Auftakt noch groß angekündigte Jahrhundertwerk“ zum „mühsam zusammengebastelten Kompromiß“ schrumpfen würde. Schließlich wußte er von vornherein nicht nur, was er nach Möglichkeit durchsetzen, sondern auch, was er zum Beispiel in der Beschäftigungs- oder Asylpolitik auf jeden Fall verhindern wollte.

Es ist illusorisch zu glauben, daß irgendein Mitgliedsstaat ohne Not auf einen Kommissar verzichten würde. Genauso illusorisch ist es zu glauben, in der gemeinsamen Außenpolitik und Sicherheitspolitik käme man vom Prinzip der Einstimmigkeit weg. Günther Nonnenmacher hat mit dem Hinweis in seinem Gipfelkommentar (FAZ vom 18. Juni) recht: „Wer über die in Millimetern zu bemessenden Fortschritte bei der institutionellen Reform der EU klagt, sollte eines bedenken: Zum Kern der europäischen Einigung gehört nicht nur, wie immer gesagt wird, der Ausgleich zwischen Deutschland und Frankreich. Ein Kerngedanke der Integration war und ist auch die Gleichberechtigung der kleineren Staaten Europas, die meist nur Objekt der Geschichte waren, mit den größeren.“ Die EU wird nie zu einer stromlinienförmigen Außenpolitik in der Lage sein und immer nur Regelungen suchen können, die zwischen Gleichberechtigung der Mitglieder und Handlungsfähigkeit der Union vermitteln können.

Andreas Oldag kann über die in Amsterdam gefundene Regelung nur den Kopf schütteln: „Gewiß könnte der jetzt für die Außenpolitik zuständige Generalsekretär vielleicht für eine intensivere Koordinierung sorgen. Doch das entscheidende Manko sind die Abstimmungsprozeduren: Zunächst soll der Rat einstimmig über die Strategie gegenüber einem Land entscheiden. Darauf aufbauend sollen konkrete Maßnahmen mit Mehrheit beschlossen werden.“

Ob das praktikabel ist, muß sich erst weisen. Zwischen „Gewiß“ und „Vielleicht“ ist das „Womöglich“ zu suchen. Andreas Oldag kritisiert das beschlossene Verfahren unter Effizienzkriterien: „Konflikte um die neue gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik (Gasp) sind programmiert. Denn wo liegt die Abgrenzung zwischen Strategie und Umsetzung? Jedes EU-Mitglied, das in der Gasp nicht mitspielen will, wird sich auf die Strategie berufen und kann damit die anderen blockieren.“ Mag sein, daß es oft so kommt. Immerhin wird durch die Regelung eine politische Auseinandersetzung erzwungen, in dem die Fragen, ob etwas und was getan werden soll, auseinandergehalten und in dieser Reihenfolge unter unterschiedlichen Bedingungen entschieden werden. Bisher konnten sie vermischt werden, was immer darauf hinauslief, man vermöchte gar nichts tun, weil man sich nicht darüber einigen könne, was zu tun sei. Der Kritiker der Millimeterfortschritte meint, das Verfahren programmiere Konflikte, während es doch eben in dem Bewußtsein festgelegt wurde, daß die Konflikte nicht vermieden, sondern bestenfalls moderiert werden können.

Die forsche Kritik lebt von der Abstraktion von den durch das Verfahren zu regelnden Widersprüchen, um dann die Konflikte, die aus ihnen entspringen, dem Verfahren zuzuschreiben. Ein einfaches Mehrheitsverfahren wäre nur scheinbar effizienter. Entweder würde der Entscheidung aus dem Weg gegangen, oder sie würde den Bruch mit der Minderheit riskieren. Die Mitgliedsstaaten können ihre Interessen und Traditionen nicht an der Garderobe zum Verhandlungsraum der EU abgeben. Von welchem Ideal also weichen Millimeterfortschritte der Integration ab? Sicher vom Ideal des starken Staates, der von oben herab objektiv entscheidet und dann die Entscheidung durchzieht. Zur EU konnte es aber überhaupt nur kommen, weil ihre Mitgliedsstaaten auch für sich genommen glücklicher – oder von mir aus auch bedauerlicherweise meilenweit von einem solchen Ideal entfernt sind. Das Regierungshandeln ist von Meinungen, Stimmungen und öffentlicher Willensbildung abhängig. Ein Segen, daß es damit nicht vorbei ist, wenn die Regierungen sich untereinander zu einigen versuchen.

Mit ihrem scheinbar sachlich begründeten Effizienzkriterium legt die Kritik tatsächlich einen autoritären Maßstab an, der im Inneren der Staaten kaum tolerabel wäre, zwischen den Staaten aber allenfalls hegemonial erfüllt werden könnte. Hegemonie ist aber in der komplizierten Struktur der EU mit den nicht ausschaltbaren Spannungen unter ehemaligen Großmächten und gleichberechtigten kleineren Mitgliedern, die nie mehr Spielball der Großen werden wollen, nicht zu verwirklichen. Auf vielen Feldern der Politik ist die EU nicht viel mehr als ein Apparat, der potentiell antagonistische Widersprüche auf ein aushaltbares Maß kleinarbeitet, der in der europäischen Staatengeschichte angelegte „Widersprüche zwischen uns und dem Feind“ in Widersprüche einer langsam entstehenden europäischen Gesellschaft umwandelt. Da wird gehäckselt und nicht geklotzt.

Der Maastrichter Vertrag hat die Währungsunion als Hauptkettenglied der weiteren Integration festgelegt. An dem halten die Protagonisten verbissen fest. Amsterdam hat das bestätigt. Das hat etwas von einem maoistischen Abenteuer. Es kann teuer zu stehen kommen, aber auch die erstaunlichsten Resultate zeitigen. Ein langer Marsch durch den Alltagssumpf mit schwerem Gepäck, kein Sprung von Gipfel zu Gipfel. Daß sich die EU nichts vorgenommen hätte, kann man jedenfalls nicht behaupten. Joscha Schmierer