Wo bleibt der kritische Blick?

■ Wichtige Zeitzeugen hat Regisseur Heinrich Breloer schlicht unterschlagen

Herbst 1977. Die Rote Armee Fraktion hat Hanns-Martin Schleyer entführt. Den BDI- und Arbeitgeberchef mit SS-Vergangenheit will sie gegen gefangene Genossen austauschen.

Neben Schleyers Fahrer und Sicherheitsleuten gibt es weitere Tote: ein Polizist in Utrecht, der Kapitän der entführten Lufthansamaschine, drei der vier Kidnapper in Mogadischu. In Stammheim sterben drei RAF-Gefangene. Einen Tag später: Schleyer ist tot. Und in Stadelheim stirbt noch eine Gefangene. Welch ein Blutbad! – Ein unnützes, eines, das vermeidbar gewesen wäre, wenn man Heinrich Breloer folgt.

Der Regisseur läßt es Andreas Baader in Stammheim deutlich sagen: Tauschen Sie uns aus, wir kommen nicht zurück, kein bewaffneter Kampf mehr.

Breloers Quelle für diese Aussage ist der BKA-Mann Alfred Klaus, der damals mit den Stammheimer Gefangenen sprach. Das Ende der RAF hätte demnach bereits 1977 sein können. Hätte, hätte, hätte. Das Ende der RAF kommt erst 15 Jahre später, 1992.

Die Einsicht in die Katastrophe ist so neu allerdings nicht. Klaus Bölling, 1977 Pressesprecher von Bundeskanzler Schmidt, sagte der taz vor zehn Jahren, was falsch gelaufen ist. „Es müßte von der politischen Elite... endlich anerkannt werden, daß das Thema RAF damals nicht und heute nicht begreifbar ist, wenn man es nicht in seinen Kausalitäten anerkennt, ...daß nichts zu begreifen ist, ohne das Ereignis des Vietnamkriegs.“ Und: „Ich habe damals empfunden, daß wir einen Fehler begehen, indem wir suggerieren, die RAF ist samt und sonders eine kriminelle Vereinigung, eine Bande.“

Die Sache mit dem Kinderwagen

Breloer vollzieht diese „Kausalitäten“ in hastenden Schnitten nach, viel zu schnell, als daß auch nur ein einziger Zuschauer auf die Idee käme, Breloer wolle die RAF als gesellschaftspolitisches Phänomen erklären. Diese Flüchtigkeit könnte man ihm vorwerfen. Unbedingt vorwerfen muß man ihm jedoch, daß seine Recherchen an vielen Fragen haltgemacht haben, die noch heute in einem schwarzen Loch verhallen, das da „Kontaktsperre“ und „Nachrichtensperre“ heißt. Breloer fragt zum Beispiel nicht beim damaligen Kanzleramtsminister Wischnewski nach, was aus dem Vorschlag wurde, die Gefangenen auszutauschen und anschließend den Ausnahmezustand über die Republik zu verhängen. Ein Vorschlag von Franz Josef Strauß.

Und dann die mythenumwobene Nacht zum 18. Oktober 1977 in Stammheim: Die einzige Überlebende, Irmgard Möller, die 1994, nach 23 Jahren, aus der Haft entlassen wurde, erinnert sich auch heute nicht, wie es dazu kam, daß sie mit lebensgefährlichen Stichverletzungen aufwachte. Bei Breloer erfahren wir jedoch nicht einmal von ihrer Existenz.

Knut Folkerts, der 1977 dem RAF-Kommando angehörte, sagt uns, er sei von Breloer gar nicht erst kontaktiert worden.

Für seine Recherchen auf Seiten der RAF hat sich Breloer an Peter-Jürgen Boock gehalten. Boock gehörte zum Schleyer-Entführungskommando. Er war bereits im Winter 1977 schwer drogenabhängig und lieferte später widersprüchliche Versionen der Ereignisse. Neben Boock ist Silke Maier-Witt, damals RAF-Kurierin, seine Quelle. Beide haben gegenüber der Polizei ausgesagt.

Das hat Folkerts nicht. Er wurde im September 1977 in Utrecht verhaftet, als Schleyer noch lebte. Breloer: „Folkerts war eine Schlüsselgestalt. Nach seiner Verhaftung in Holland bot das BKA ihm eine Million und eine neue Identität, wenn er das Versteck mit dem entführten Schleyer verriete. Vergeblich.“ Folkerts bestätigt der taz dieses Angebot und ergänzt: „Eine Million, oder wir hängen dich auf.“ Den zweiten Teil des Angebots hätte Breloer nur von Folkerts, kaum vom BKA erfahren können.

Fragt sich, weshalb Breloer eine Schlüsselgestalt nicht befragt. Wo bleibt der kritische Blick, wo bleibt der Zweifel? Folkerts, der nach 18 Jahren Haft 1996 aus dem Celler Hochsicherheitstrakt entlassen wurde, hätte womöglich sehr anschaulich erklären können, was sich unter Böllings Begriff des „Suggerierens“, die RAF sei eine kriminelle Bande, vorgestellt werden kann: Der Kinderwagen, den Breloer in seiner erzählerischen Überfallszene als „Stopper“ für das Schleyer-Auto von einem Terroristenpärchen fast vor die Stoßstange schieben läßt, sei während der realen Überfallsituation niemals vom Gehweg gerollt worden, sagt Folkerts. Er sei nur als Vehikel für die sperrigen Waffen benutzt worden, die man mitten im Sommer ja nicht unterm T-Shirt habe verbergen können. Um Schleyers Mercedes abzustoppen, habe das Kommando lediglich den Transporter in Schleyers Weg gebracht.

Ist es nicht möglich, daß der Kinderwagen der später anrückenden Polizei im Wege stand und kurzerhand auf die Straße geschoben wurde? Oder hat das BKA hier bewußt Stimmung gegen die RAF gemacht? Der Kinderwagen galt in der Öffentlichkeit jedenfalls als Beweis für die monströse Gewalt der Terroristen.

Angesichts der Toten, die es ohne Zweifel zu betrauern gilt, mag dieses Detail schrecklich unwichtig erscheinen. Und doch setzt sich ein großes Bild aus vielen solcher Details zusammen. Für Leute, die 20 Jahre danach noch immer genau hinschauen und wissen wollen, was im Deutschen Herbst wirklich passierte, hat Breloer nicht genug recherchiert. Petra Groll