Eine undogmatische Religion

Historisch gesehen ist der Alevismus ein Zweig des Schiismus, der Name ist abgeleitet von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten Mohammed. In schwer zugänglichen Regionen Ost- und Zentralanatoliens jedoch entwickelte sich der Alevismus vollkommen eigenständig weiter und hat heute mit dem Shiismus etwa im Iran kaum noch Gemeinsamkeiten. Viele Grundlagen des orthodoxen Islam lehnen die Aleviten ab, etwa das Beten in Moscheen, die Pflicht zur Pilgerfahrt oder das Fasten im Ramadan. Frauen sind auch im Kult zumindest theoretisch gleichberechtigt.

Der anatolische Alevismus war eine undogmatische Religion der Dörfer. Mit Gründung der Türkischen Republik 1923 jedoch verloren die geistigen Führer ihre politischen und richterlichen Aufgaben an den Staat. Massenkommunikation und Landflucht führten gleichzeitig die isolierten Traditionen näher zusammen. In der mehrheitlich sunnitischen Türkei wurden Aleviten seit langem als Abtrünnige diskriminiert. Noch heute wird die Existenz des Alevismus in den Curricula des staatlichen Religionsunterrichts der Türkei mit keinem Wort erwähnt. Der 2. Juli 1993, als im mittelanatolischen Sivas ein fundamentalistischer Mob vor den Augen der Polizei den Tagungsort eines alevitischen Kulturtreffens anzündete und 37 Tänzer, Musiker und Schriftsteller bei lebendigem Leib verbrannten, markiert im alevitischen Selbstbewußtsein einen tiefen Einschnitt. Immer mehr Aleviten bekennen sich seither offen zu ihrem Alevitentum. In der Türkei leben etwa 20 Millionen Aleviten, in Deutschland an die 700.000. mg