„Das ist ja wie vor acht Jahren!“

■ Bei der Weimarer Tagung „Nietzsche im Marxismus“ fanden sich tatsächlich noch Apologeten des restriktiven Umgangs mit dem verfemten Werk des Philosophen

Als hätte es den beißenden Spott Nietzsches gegen den „herdenhaften Trieb“ der Sozialisten nie gegeben, widmete sich eine Tagung in Weimar am vergangenen Wochenende dem wechselhaften Verhältnis zwischen Nietzsche und Marxismus.

Der Mainzer Philosoph Hans- Martin Gerlach beschrieb die Frühgeschichte der linken Nietzsche-Rezeption ausgehend von den jungen sozialistischen Bilderstürmern, die sich bereits um die Jahrhundertwende hitzig auf den Weimarer Philosophen berufen hätten, um den verknöcherten Parteiapparat zu regenerieren, aber auch um mehr revolutionären Elan in die Partei zu treiben. Für viele war das Bekenntnis zu Nietzsche gleichbedeutend mit einer Entscheidung gegen den Materialismus.

In erster Linie aber ging es natürlich um die Schwierigkeiten der Nietzsche-Rezeption in der DDR, wo er spätestens nach der Veröffentlichung von Georg Lukáczs' Streitschrift „Die Zerstörung der Vernunft“ von 1954 zur Persona non grata deklariert worden war.

Ein Eklat ließ nicht lange auf sich warten: Wegen des Auftritts von Klaus Höpcke, vormals DDR- Kultusminister, hatte der Hallenser Philosophieprofessor Manfred Riedel seine Teilnahme abgesagt. Höpcke sei doch einer der Hauptzensoren gewesen, der eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Nietzsche stets verhindert hätte.

Als dann noch der Referent Hans Heinz Holz die Behinderungen einer freien Diskussion über Nietzsches Werke als historisch gerechtfertigt deklarieren wollte, kam unter den ostdeutschen Zuhörern Unruhe auf. „So etwas habe ich zum letzten Mal vor acht Jahren zu hören bekommen“, empörte sich ein Teilnehmer. Die Veranstalter wiesen die Kritik zurück. Eine Sprecherin der Stiftung Weimarer Klassik kommentierte: „In einem Streit um die Nietzsche- Rezeption kann man die Beteiligten, auch wenn sie heute nicht mehr gern gesehen werden, nicht außen vorlassen.“ Die bedeute nicht, daß sich die Stiftung die Auffassungen Höpckes zu eigen mache.

Höpcke wiederum erinnerte daran, daß immer wieder überlegt wurde, eine „Edition spätbürgerlicher Philosophen“ vorzubereiten. Die geplante Nietzsche-Ausgabe in vier Bänden beim Aufbau-Verlag kam allerdings nicht zustande. Angeblich fehlte ein entsprechendes Gesamtkonzept.

Doch zunächst schien einiges auf eine Liberalisierung im Kulturbereich hinzudeuten. So gelangte das Kulturministerium 1983 zu der Einschätzung, „eine stärkere Beschäftigung mit der Philosophie dieses spätbürgerlichen Ideologen“ sei zu begrüßen. „Es kann nicht an der Tatsache vorbeigegangen werden, daß Nietzsche außerordentlich folgenreich gewesen ist und auf große Schriftsteller unseres Jahrhunderts eine nachhaltige Wirkung ausgeübt hat. Die Ablehnung einer Philosophie mit unleugbar reaktionärem Gehalt, mit antisozialistischen Grundzügen, kann letztlich nicht dazu führen, diese Philosophie, ihre Nachwirkung und die Lebensumstände des Philosophen auf Dauer als ein Tabu zu betrachten.“

Das Ministerium habe durchaus die Absicht verfolgt, die seit langem verwaiste Villa Silberblick mit dem Nietzsche-Archiv zu restaurieren. Zudem konnte Hans-Martin Gerlach 1985 an der Universität Halle unter dem Vorwand eines anderen, offiziell abgesegneten Titels eine Konferenz zu Nietzsche abhalten. In dieser Zeit erschien auch das erste und einzige Werk Nietzsches in der DDR: „Ecce homo“ als Faksimile-Ausgabe, veröffentlicht durch Mazzino Montinari und das Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv. Bedeutender in dieser offenkundigen Liberalisierungsphase waren die Diskussionen, die in den Weimarer Beiträgen, in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie und vornehmlich in Sinn und Form geführt wurden.

Selbst Westautoren wie Hans Heinz Holz, Thomas Metscher und der in die DDR ausgewanderte Friedrich Tomberg stritten in dieser Debatte um eine Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes. Als schließlich Stephan Hermlin 1987 auf dem X.Schriftstellerkongreß der DDR verkündete, „Nietzsche existiert nicht in der DDR; ich halte das für einen Mangel, weil Sozialisten an keiner wesentlichen Gestalt vorbeigehen können“, schien es kein Zurück mehr zu geben.

Doch niemand hatte ernsthaft mit Wolfgang Harich gerechnet. Friedrich Tomberg berichtete auf der Tagung, daß viele Mitglieder der Ostberliner Akademie der Wissenschaften in persönlichen Gesprächen das Wohlwollen Harichs gewinnen wollten. Doch alle Mühe half nicht. Mit einer Welle von Eingaben an Willi Stoph, Kurt Hager und Erich Honecker zementierte er die dogmatische Position. Höpcke zitierte aus einem Brief des Staatsratsvorsitzenden Honecker, in dem es hieß, „am Nietzsche-Bild der revolutionären Arbeiterbewegung ist festzuhalten“.

Die Tauwetterperiode kühlte sich wieder ab, und die Diskussion, kaum begonnen, war schon beendet. Offensichtlich hatten viele Angst vor dem Dynamit des Weimarer Philosophen. Gunnar Decker (Berlin) brachte das Problem auf den Punkt: Angesichts von Gorbatschows Perestrojka hätte eine „Aufweichung“ des Nietzsche-Bildes die Zersetzung der DDR vorangetrieben.

Einige Widersprüche in den Darstellungen der Nietzsche-Rezeption in der DDR konnten auch auf dieser Tagung nicht aufgeklärt werden. Vieles wird sich erst aus dem Studium weiterer Akten und mit dem zeitlichen Abstand ergeben, der den Protagonisten die Distanz verschafft, die zur offenen Diskussion nötig ist.

Erst in einem zweiten Schritt ließe sich dann gemeinsam überlegen, ob Nietzsche nicht, wie es viele vermuten, Derridas Motto „Keine Zukunft ohne Marx“ ad absurdum führt.

taz/Klaus Englert