Es spukt und scherzt

■ Harald Gerlachs "Windstimmen" ist ein philosophischer Heimatroman

Das ist lustig: Drei Gespenster finden in einem SED-Schulungsheim das „Kommunistische Manifest“. Das erste liest vor: „Ein Gespenst geht um in Europa...“ Da ruft das zweite: „Die meinen uns!“ Und das dritte: „Woher wissen die denn, daß wir hier sind?“ Lustig auch: Die DDR ist in ihr letales Stadium getreten. Das Staatsvolk flieht über die Grenze, der oberste Staatsmann aber will nicht zurücktreten. Da erscheint der mit allen Gliedern seiner Rüstung scheppernde, pünktlich nachts um zwölf aus alten Wunden blutende Wiedergänger eines Raubritters an Honeckers Bett, um den Regierungswechsel durch Schock zu erzwingen. Aber statt daß den Alten der Schlag trifft, ist der hellauf begeistert: Im Untoten erkennt er den dynamischen Nachfolger, den Ehefrau Margot sogleich in ihr Bett ziehen will. Und auch nach der Wende schließlich gibt es noch Grund zum Lachen: „Nichts ist unendlich“, schreibt Harald Gerlach in seinem Roman „Windstimmen“. „Rom ist untergegangen, Karthago ist verschwunden. Warum soll es Volkswagen und Mercedes anders ergehen?“ Parbleu! Gott ist tot, Marx ist tot, und mir geht's auch schon ganz übel... Den hatten wir schon.

Es mag an solchen Wiedererkennungseffekten liegen, daß der Humor in den „Windstimmen“ auf die Dauer so abgestanden wirkt. Denn eigentlich gibt sich Gerlach wirklich alle Mühe, sein großes Geschichtserzählungsprojekt, eine Art philosophischer Heimatroman über Zeit, Ewigkeit und die menschliche Unfähigkeit zum Glück, möglichst aufzulockern und zum Schweben zu bringen. Da spukt und wallt und scherzt es nach Kräften. Aber allmählich setzt sich doch ein Bekenntnistext durch, der in eine regelrechte Predigt mündet. „Ihr seid doch wer, Leute!“ ruft Gerlachs Held Benjamin im letzten Kapitel gerade noch den geknickten Ex-DDR-Bürgern zu. Da saust schon die Schlagkette eines Skins auf seinen Schädel und entsendet den Prediger mit einem nun auch noch physischen Wende- Trauma ins Hospital. „Deutschland den Deutschen“, „Geld oder Leben“, das sind die Maximen der vereinigten Bundesrepublik.

Der Botschaftsgestus am Ende ist ebenso befremdlich wie die Mitteilungen selbst, denn Gerlach hat mit seinem Roman ziemlich hoch angesetzt. Die Motti stammen vom frühbarocken Mystiker und Theosophen Jakob Böhme, dem philosophischen Mentor des Unternehmens, und von Grimmelshausen, der für deftig-realistische Szenen aus dem irdischen Lebenskampf bürgen soll. Schlesien, die verlorene Heimat, ist das emotionale Zentrum: schlesische Sprache und Volksweisheit, schlesische Geschichte über ungefähr 300 Jahre, schlesische Naturmystik und Magie, die auch unter den nach Westen Geflüchteten noch lebendig sind. Natürlich geht es aber vor allem um die Menschen, die im Riesengebirgsdorf ihr Glück zu machen versuchen und es nicht bewahren können. „Nischte asunste is schwar wies Labn“, sagen sie immer wieder, „hin wie her ist gleich weit“ und „die Dinge sind, wie sie sind“. Diese Überzeugung wird an den unerlösten Schmieden „Robert, dem Einarmigen“, seinem Sohn „Kowal-Koarle“ und dem Enkel „Klein-Walter“ nebst deren ebenfalls kregel umgehenden Ehefrauen Wanda, Meta und Linda exemplifiziert. Erst mit dem Nachfahren Benjamin, der gegenüber den politischen Forderungen des Staates „stilles Widerstehen“ übt, kommt eine verhalten optimistische Tönung ins Bild.

Auf einem Hof in Thüringen aufgewachsen, als Kriegsdienstverweigerer von der Oberschule relegiert und zuletzt als neuzeitlicher Simplicissimus Zeuge des Zusammenbruchs der DDR, gibt Benjamin Harald Gerlach Gelegenheit, DDR-Vergangenheit Revue passieren zu lassen: von den pazifistischen Parolen der Frühzeit über die Bodenreform und den 17.Juni bis hin zu den Leipziger Demonstrationen. Doch bleibt gerade diese Szenerie wiederum genauso blaß und fleischlos wie die Mädchen, die bei Gerlach den Umbruch vorantreiben (hatte denn nicht eine wenigstens einen Koch bei sich?). „Katechetinnen“, beobachtet Benjamin, „farblose Gesichter, die Körper geschlechtslos. Tugendhafte Rebellen. Aber ist mit denen ein besserer Staat zu machen?“ Wohl nicht. Und die sollen's nun gewesen sein.

Je näher die „Windstimmen“ der Gegenwart kommen, um so weniger überzeugend gelingt es auch, das schlesische Spuken, Geistern und Hexen noch in der schönen neuen Porno- und Audi-Welt nach '89 weiterwesen zu lassen. Ach ja, ach ja: „Es gibt keine Wahrheit. Nur Geschichten, gut oder schlecht erzählt“, hieß es am Anfang. Und dann sind am Ende die Geschichten doch leider eher schlecht erzählt, denn die „Wahrheit“, diese ewige Wiedergängerin der DDR-Literatur, hat Harald Gerlach eingeholt. Ratlos imitieren da die Stimmen das Varieté der fünfziger Jahre: „Guter Gott, seufzt die Frau. Nein, entgegnet Arthur. Ich bin der Wirt.“ Frauke Meyer-Gosau

Harald Gerlach: „Windstimmen“. Aufbau Verlag, 122 S., 42 DM