: Die eigenen Feldpostbriefe nie gelesen
Detaillierte Erinnerungen, plötzliche Scheu: Ein Rundgang durch die Wehrmacht-Ausstellung mit Pastor Ulrich Finckh, Vorsitzender der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer ■ Aus Bremen Bernd Müllender
„Ja“, sagt Ulrich Finckh, „auch ich war Soldat.“ Sonst klingt dieser Satz aus seinem Mund immer wie eine skurrile Anekdote aus längst vergangener Zeit. Hier, inmitten der Wehrmacht-Ausstellung, unter all diesen Bildern, hat die biographische Bemerkung etwas unmittelbar Beklemmendes. Ausgerechnet er, der Friedens-Finckh, gehörte zu diesen Verbrechern in Uniform? Er, einer von denen? Nicht, daß wir sein Konterfei hier noch wiederentdecken...
Ulrich Finckh, evangelischer Pastor a.D., ist heute einer der engagiertesten Antimilitaristen und Menschenrechtler. Der Unermüdliche ist im Vorstand der Gustav-Heinemann-Initiative und der Bremer Sozialen Friedensdienste, erhebt im Bonner Zivildienst-Beirat die Stimme für die Belange der Zivis und ist Mitherausgeber des neuen rororo-„Menschenrechts-Reports“. Und sagt heute: „Einiges von diesem fürchterlichen Unrecht und der Rechtlosigkeit“ habe man durchaus gewußt, gespürt und geahnt. „Aber es war merkwürdig, wir haben dieses dauerhafte, ständige Unrecht damals einfach zu wenig beachtet.“
„Puuh“, macht er ein paarmal, als wir gleich zu Beginn unseres Rundgangs vor einer Wand mit abscheulichen Bildern aus der Ukraine stehen, „es ist unglaublich, unvorstellbar.“ Schon als Pimpf, erzählt Finckh, war er beim Jungvolk der Nazis. „Da drehte sich alles um Ehre, um Härte, um Mannsein.“ Zur gleichen Zeit war er engagiert im kirchlichen Jugendkreis. „Da ging es um Jesus, um Helfen und Mitmenschlichkeit.“ Morgens Faschismus, nachmittags Humanismus – ein Doppelleben, „wirklich zwiespältig“, sei das gewesen, „gelebte Schizophrenie“. Aber ihm sei das eben bezeichnenderweise damals nie so recht bewußt gewesen.
„Auch ich als Jugendlicher, 1943/44, mit 16 Jahren, wußte von einem KZ Dachau, und Hitler sprach öffentlich von Erschießungen. Aber wir haben nicht genügend nachgedacht, was das wirklich bedeutet! Und viel zuwenig geredet in der Familie.“ Seine Eltern etwa, sagt Finckh, hätten halt Angst gehabt, was Sohnemann Ulrich und die beiden jüngeren Geschwister womöglich herumplappern würden in der Schule. „Heute schäme ich mich über unsere Gedankenlosigkeit. Wie blöde und blind man war die ganze Zeit...“ Nach dem Krieg hat der heute 69jährige um so mehr nachgedacht. „Daß ich heute bei noch so geringem Unrecht so laut aufschreie, das hängt auch mit damals zusammen.“
Seit nunmehr 26 Jahren ist Finckh Vorsitzender der Bundes- Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer in Bremen. Aufgabe: wehrpflichtigen Gewissenstätern helfen, daß sie erst gar nicht in die Fänge des Militärs gelangen. Ob das Erschrecken über das Bestialische im deutschen Nazi-Soldaten hilft bei einer Entscheidung zur Verweigerung? „Man kann es nur hoffen. Aber es bleibt eben immer eine Gewissensfrage.“
„...eine Sühnemaßnahme veranstaltet... Irgendwie die Partisanen abschrecken und abknallen...“ Eine junge Ausstellungsführerin erklärt einer Schulklasse die Wehrmachtsmassaker in Serbien. Wortfetzen fliegen herüber. „...1.800 Tote... Einfach so erschossen...“ Hölzern, manchmal unfreiwillig komisch kommen Deutungsversuche und Gegenfragen. „...auch Kommunisten und Juden sollten einfach so umgebracht werden? ... Partisanen erschießen – das galt wohl als normal, oder? ...“
Deutsche Soldaten: präparieren die Galgen. Lassen Gräben ausheben. Waffenbrüder bei Judenjagd und Blutmarsch. Gefangene Frauen und Kinder werden durch vermintes Gelände gescheucht, sie heißen „behelfsmäßiges Minensuchgerät“ und explodieren erwartungsgemäß. Dazu immer wieder wie selbstverständlich diese Erschießungen. „Standrechtlich.“ Ein Schüler mutmaßt: „Das haben die Wehrmachtssoldaten wohl irgendwie reingetrimmt bekommen, bis sie wollten... War wohl eine Frage der soldatischen Ehre...“
Finckh liest in den Texten der Stellwände, mit angespannter Neugier, fährt mit den Augen über die Bilder, schüttelt den Kopf, erklärt, deutet, sagt einmal „Wir damals...“ Und wird wie auf Stichwort angesprochen: „Ach, waren Sie auch dabei...?“
Seit München gehören grauhaarige Alte im wehrmachtfähigen Alter quasi zum Inventar dieser Ausstellung: Ist das vielleicht auch einer dieser Unverbesserlichen, die so schön widerlich lospoltern? Finckh sagt: Ja, ich war dabei. Und monologisiert kenntnisreich über die Wehrmachtsverbrecher, daß der andere kaum zu Wort kommt. Der bedankt sich und geht. Was mag er für einer gewesen sein? ...
„...Säuberungen, Aufräumaktivitäten, schlechte Außenwirkung... Und das waren alles unsere Soldaten, die da so wild gemordet haben? ... ,Unsere‘? – Biste blöd!?“
Anfang 1943, mit 15, wurde Ulrich Finckh Luftwaffenhelfer, und mit gerade 17 kam er zur Kriegsmarine nach Stralsund. „Kann man für Hitler Soldat sein?!“ – die Frage habe er in seiner liberalen, großbürgerlichen Familie oft gehört. Soldatsein selbst war immer „ein Wert an sich“. Finckh sagt, im Freundeskreis seien alle, er auch, „hell empört gewesen“, daß sie als junge Luftwaffenhelfer mit HJ-Binde antreten sollten, also mit Hakenkreuz, für die Partei. „Wir wollten richtige Soldaten sein.“ Und das hieß: „Für das Vaterland, nicht für die Nazis, also was Anständiges, was Lauteres, was Echtes.“
Um uns herum sehen wir all diese lauteren, echten und anständigen Bestien mit Gewehr, die Henker, die Todesschützen. „...wenn man nicht dabei war bei der Wehrmacht, war man irgendwie so der Loser...“
Eine ganze Wand ist voll mit Textdokumenten über Fotografierverbote, Befehle zum Verwischen von Spuren. „Sie wußten ganz genau, daß es Verbrechen waren und nicht normaler Krieg.“ Richtig laut wird Finckh für einen Moment. „Sie wußten es so genau!“ Es habe wirklich „so etwas wie ein Unrechtsbewußtsein gegeben, aber sie haben trotzdem weitergemacht, und das immer schlimmer. Mich erschüttern manchmal die Texte mehr als die Fotos.“
Erstaunlich, wie viele Dokumente doch erhalten geblieben seien, meint Finckh. Und berichtet plötzlich, er habe ja auch Briefe geschrieben, damals als Jungsoldat, „die müssen noch in irgendwelchen alten Umzugskartons herumliegen“. Was hat Soldat Finckh, der spätere Kämpfer wider allen Unrechts, denn geschrieben? „Ach, was weiß ich, keine Ahnung...“
Wieso nicht? Das wäre doch spannend, Feldpostbriefe eines Antimilitaristen. „Ich habe all die Jahre nie nachgesehen.“
Finckh, sonst kaum zu bremsen in detailkundigem Redeschwall und Mitteilungsbedürfnis, wird wortkarg. Der Unerschütterliche zögert, zaudert. Erzählt noch vom jüdischen Klassenlehrer seiner Mutter, den diese sehr verehrt habe, und wendet sich ab. Sucht plötzlich Distanz, Abstand. Und spricht lieber von heute: „Man muß ganz genau aufpassen, was Militär und Politik tun, den Herrschenden immer ganz genau auf die Finger gucken.“
Zwei Fragen der Faschismusforschung, sagt Finckh, seien auch mit dieser Ausstellung zu wenig geklärt. Einmal: „Es gibt wirklich kaum einen Beweis, daß jemandem ernsthaft was passiert ist, der sich geweigert hätte, bei Erschießungen mitzumachen.“ Und das andere: „Völlig außen vor bleibt auch hier, wer von den vielgerühmten Widerständlern des 20. Juli vorher mitgemacht hat. Nicht nur gewußt! Gemacht hat! Und wenn, was. Ich traue den wenigsten aus diesem Kreis.“
Noch ein Versuch mit den Feldpostbriefen. „Ich müßte mal meine Frau fragen, wo die Kisten überhaupt abgeblieben sind. Aber viele Briefe sind es bestimmt nicht.“ Was mag er als 17jähriger so geschrieben haben? Unangenehmes? „Ach was. Was denn!“ Vielleicht fürchtet er ein schnodderig hingeschmiertes „Heil Hitler“ aus eigener Feder.
„...heroisch, na ja: Männer halt..., typisch, Kriegsmachos...“
„Soldatsein verroht unglaublich.“ Auch schon in Friedenszeiten? „Ja“, sagt Finckh, als sei die Frage eine Beleidigung. „Ja.“ Ein Wort wie ein Ausrufezeichen. Wie ein Aufruf zur Verweigerung. Soldatsein, ein für Außenstehende immer wieder unverständliches Dasein: Man wird nicht nur zum potentiellen Mörder gedrillt, sondern ist auch potentieller Vergewaltiger. „Über die Soldaten der Roten Armee, über die finsteren Russen“, da sei viel geschrieben worden, sagt Finckh. Heute wird geschätzt, daß in Osteuropa über eine Million Besatzungskinder von Wehrmachtsmännern leben. Die Soldaten gaben dem in der Perversion arischen Denkens noch eine völkische Funktion. Es hieß widerlicherweise: „Aufnorden“.
Beim Kaffee kommen wir noch mal auf seine Feldpostbriefe zu sprechen. Vielleicht wäre da zu lesen, „ob ich mir nicht auch was in die Tasche gelogen habe“. Oder: „Ob ich damals schon geschrieben habe, wie sehr mich unser Militärpfarrer aufgeregt hat.“ Womöglich hat er auch gelästert, geschimpft, die Sprache der Nazis aufgenommen, vom Endsieg gefaselt? Vielleicht geschrieben von seinem Kommandanten Anfang 1945, als der sagte: „Wenn Sie einen abgeschossenen Soldaten aus lauter Wut umbringen, da kann ich nichts machen.“ Das war Aufforderung zu feigem Mord. Finckh kam nie in die Situation, zurück an der Westfront, kurz vor dem geplanten Unteroffizierslehrgang, haben ihn die US-Befreier gefangengenommen. „Ein Segen.“ Wie er wohl damals davon geschrieben hat?
„...das waren Tiere... Na ja, Tiere? ... Ja sicher, dann guck doch...“
Im Gehen sagt Finckh ungefragt: „Ich werde meine Feldpostbriefe jetzt mal suchen und lesen.“ Es war dies das einzige, was nicht so recht glaubwürdig klang.
Aber wie auch immer: Wenn schon dieser aufrechte Mann eine solche Furcht vor verdrängten Facetten – und seien sie noch so banal – seiner Vergangenheit hat, was mögen dann all die Wehrmachttäter über Jahrzehnte mit sich herumgetragen haben an Wissen, an Gewissensqualen, an Schuld... Und innerlich zerfressen sein vom Verdrängen, vom Leugnen in der langen Nachkriegszeit...
Manchmal kommt die Wahrheit auch erst posthum ans Tageslicht, als plötzlicher Schock für die Kinder und Enkel: Hier und da haben schon ahnungslose BesucherInnen der Wehrmacht-Ausstellung ihre Verwandtschaft wiederentdeckt. Und auch beim Eröffnungsrundgang in Bremen stand ein Angestellter der örtlichen CDU plötzlich geschockt vor dem Bildnis seines eigenen Vaters.
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