Mmmh, wie lecker aber auch

Boulevard Bulette oder Die hohe Kunst der subtilen Berlinbeschimpfung: Drei literarische Neuerscheinungen zu einem alten Thema  ■ Von Peter Walther

Berlin, das ist eine Ansammlung von 8 Städten und 59 Dörfern, ein Ort, der durch den Reißwolf der Geschichte gedreht wurde, aber eigentlich immer Provinz geblieben ist. So ungefähr könnte das Fazit der „Kleinen Geschichte Berlins“ von Eckart D. Stratenschulte lauten, die als einer von insgesamt zehn Bänden der neuen Reihe „Boulevard Berlin“ bei dtv erschienen ist. Angesichts der Flut von Berlin-Literatur und der Vielzahl von bereits ausgereizten Spezialthemen setzt die neue Berlin- Reihe auf das bewährte Verkaufsrezept: „Dies und das – für jeden was“. Mit Erfolg, denn wer Fontanes „Frau Jenny Treibel“, Döblins „Alexanderplatz“ oder Christa Wolfs Erzählung „Unter den Linden“ schon gelesen hat, der mag daran Gefallen finden.

Stratenschulte gelingt es, acht Jahrhunderte Stadtgeschichte quasi im Plauderton Revue passieren zu lassen. Keine positivistische Faktenhuberei, keine weltgeschichtlichen Exkurse oder geopolitischen Betrachtungen, sondern lebendige und episodenreiche Schilderungen machen den Wert des schmalen Bändchens für Leser aus, die sich einen Überblick über die Stadthistorie verschaffen wollen. Mit dem Parlamentsbeschluß vor nunmehr sechs Jahren ist Berlin schon zum siebtenmal Hauptstadt geworden, und immer gab es Zoff mit den Herrschenden. „Was not tut, ist die Zähmung der Berliner“, wußte schon Friedrich Wilhelm IV., den Nazis graute vor der Stadt, und Ulbricht war Berlin erst geheuer, nachdem er Zehntausende seiner Landsleute hier angesiedelt hatte. Die mittelalterliche Stadtgeschichte ist in Stratenschultes Buch leider etwas zu kurz gekommen. Um so spannender sind die Kuriosa, die der Autor ausgegraben hat: Wer weiß heute noch, daß die Westberliner Rentner nach der Währungsreform 1948 in Ostgeld ausbezahlt wurden, weil die Versicherungsanstalt Berlin ihren Sitz im „demokratischen Sektor“ hatte? Daß die Westalliierten nahe daran waren, die Ostmark für ganz Berlin einzuführen?

Der gemeine Charlottenburger, wie ihn Renée Zucker in einem weiteren Band der Reihe beschreibt, mag bei dieser Vorstellung noch im nachhinein das Schütteln bekommen. In dem Buch mit dem Titel „Ecke Friedrichstraße“ sind Beiträge versammelt, die von Autoren der Süddeutschen Zeitung für die Berlin- Seite der SZ geschrieben wurden. Der nahe Osten ist schick geworden, junge Westler, die wegen der billigen Miete hierhergezogen sind, „geraten beim Renovieren ihrer ofenbeheizten 58 Quadratmeter in Euphorie: ,Auf unserem Markt am Boxhagener Platz gibt es drei Stände mit Spreewälder Gurken.‘“ „Mmmh, wie lecker aber auch“, kommentiert Renée Zucker, „man mag gar nicht mehr nachfragen, was es an den anderen fünf Ständen gibt.“ Sollte man aber, denn auf diese Weise würde man garantiert Bekanntschaft mit einem Kleinod der Berliner Küche schließen – mit der Bulette.

Auch zur Bulette finden sich einige offenbar unvermeidliche, hämische Bemerkungen im Buch. Doch da, liebe SZ-Autoren, hört der Spaß auf und geht nahtlos in kulinarische Arroganz über. Wer sich einmal an der Bulette versucht hat, wird das fragile Gleichgewicht der Zutaten und die verschiedenen Möglichkeiten der Veredelung in respektvoller Erinnerung behalten. Während andere Großstädte bedeutende Architektur oder eine effiziente Stadtreinigung hervorgebracht haben, trägt die Ausgeburt urbanen Lebens in Berlin den Namen Hundescheiße: „Zickezacke Hundekacke“ heißt das Rezept, das Evelyn Roll, die Herausgeberin des Bandes, all jenen empfiehlt, die über ein tiefes Schuhprofil und zu kurze Fingernägel verfügen. Mit im Chor der subtilen Berlinbeschimpfung singt übrigens auch Elke Schmitter, die in einem Text über debile Wilddiebe in Brandenburg mit gekonnter Beiläufigkeit einen wunderschönen Satz fallenläßt: „Im Bündel west das Aas.“ Manche Lyriker hätten so was als ihr gültiges Lebenswerk akzeptiert.

Überwiegend prosaisch geht es in einem dritten Band der Berlin- Reihe zu, der von Katja Lange- Müller herausgegeben wurde. In „Bahnhof Berlin“ erzählen 35 Gegenwartsautoren von „ihrem“ Berlin. Die Grenzen von einst wirken fort, jeder beschreibt, was ihm vertraut ist. Nirgendwo hat sich der Westen so verändert wie im Westteil Berlins. Wer sollte darüber froh sein? Die Heldin in Karin Reschkes Prosaskizze jedenfalls nicht, sie flieht vor der „Masse aus dem Osten“ in die Domäne Dahlem und verweigert sich solchen Unorten wie dem Alexanderplatz, wo „Menschen im zugigen Windstrom über Steinplatten wie Vorjahreslaub an die Ränder gefegt“ werden (Reinhard Jirgl).

Ein „aufgeblähtes Monster“, einen „Tympanismus für alles, was Provinzielles ist“, nennt Jirgl Berlin, und der eloquente Held in Alban Nikolai Herbsts Beitrag hat gleich eine Lösung für das Problem Berlin parat: „Kreatives Sprengen“. Wenn Katja Müller-Lange die Alltagsleiden einer Moabiterin beschreibt oder Adolf Endler einen Katalog geläufiger Hinterhofgeräusche aufstellt („nationale und internationale Hits, effektvolle Hilferufe, das schrille Diskussionshickhack dreier BürgerrechtlerInnen, Liebeserklärungen der direkteren, hackebeilartigen Sorte“), kommt das zum Vorschein, was Berufsberliner zilleselig als „Milljö“ bezeichnen. Da bleibt kaum Platz für „Boulevard Berlin“. Doch wie ernst sollte man all die gutgemeinten Ratschläge nehmen, die der Hauptstadt den Weg von der Provinz zur modernen „Dienstleistungsmetropole“ weisen möchten? Man kann sie getrost vergessen, denn nichts ist besser für Berlin, als wenn es bleibt, was es immer war: Boulevard Bulette.

Katja Müller-Lange (Hrsg): „Bahnhof Berlin“. München 1997, 301 S., 16,90 DM; Eckart D. Stratenschulte: „Kleine Geschichte Berlins“. München 1997, 150 S., 9,90 DM; Evelyn Roll (Hrsg): „Ecke Friedrichstraße. Ansichten über Berlin“. München 1997, 264 S., 14,90 DM