Barcelona auf die literarische Tour

Die katalanische Olympiastadt im Spiegel von Romanen und Erzählungen. Streifzüge mit Schriftstellern  ■ Von Anja Mierel

Ich kannte alle Verkäuferinnen im Mercat de Nino. Wir waren Kunden bei ihnen, denn Sixta ging nie an anderen Ständen einkaufen, wenn es dafür keinen vernünftigen Grund gab. Zuerst gingen wir zum Fischstand, zu den Fischen, von denen es hieß, sie würden noch auf den Kohlblättern zappeln, die auf den marmornen Tresen ausgebreitet waren...“

Isabel-Clara Simò liest aus ihrem Buch „Idole“, mitten in der Markthalle Mercat de Nino im Stadtteil Eixample in Barcelona. Wir lauschen ihr zwischen Ständen, an denen farbenprächtiges Obst und Gemüse, gewaltige Serrano-Schinken und katalanische Hartwurst zum Kauf animieren. Fische der unterschiedlichsten Größen glotzen uns an. Hier ist Isabel-Clara Simò keine Unbekannte. Die Marktfrauen, die in ihrem Roman Spuren hinterlassen haben, begrüßen die liebenswürdige Schriftstellerin begeistert. Oliven und Wurstscheiben werden herumgereicht, für sie und uns, die ausländischen Gäste.

Wir haben uns in der Olympiastadt versammelt, um Barcelona von der literarischen Seite kennenzulernen. Michael Köhler, der die Reise konzipiert hat, liebt die Stadt und ihre Literatur. Marina Steen ist selbst in der Literatenszene der Stadt aktiv. Eine Woche lang werden sie uns mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern bekanntmachen, persönlich und in ihren Büchern, mit Verlagsleitern und Chefredakteuren. Sie werden uns vermitteln, wie sich die Stadt im Geschriebenen spiegelt, wie sie den Romanen und Erzählungen ihren Stempel aufgedrückt hat. Sie werden mit uns diskutieren, übersetzen und organisieren.

Unsere kleine Reisegruppe ist vielsprachig und belesen, Quim Monzó, Sergi Pàmies, Isabel-Clara Simò, natürlich Manuel Vázquez Montalbán und auch Amadeu Martin sind wohlbekannt. Bis auf mich, zum ersten Mal in der Stadt, sprechen alle fließend castellano, das kastilische Hochspanisch. Einige sprechen sogar català. In Barcelona wird überwiegend katalanisch gesprochen, und wenn man um etwas bittet, sagt man si us plau statt por favor.

Ein windiger Vormittag auf dem Monte Carmelo, einem der Hügel am westlichen Rand Barcelonas. Touristen verirren sich kaum in diese Wohngegend. Ein Spaziergang durch Gràcia, das ehemalige Arbeiterviertel, steht auf dem Programm. Hier haben sich in den vierziger, fünfziger Jahren die xarnegos niedergelassen, Zuwanderer aus Andalusien, dem Süden, den ärmeren Provinzen Spaniens. Wir wandeln auf den Spuren von Juan Marsé, der dem Viertel mit seinen Wellblechhütten und staubigen Plätzen am Rande der Stadt in seinen Büchern ein Denkmal gesetzt hat. Marsés Romane, aus denen Michael vorliest, handeln von der Sehnsucht der „kleinen Leute“ nach Wohlstand. Und von den sozialen Gegensätzen zwischen proletarischen Zuwanderern und katalanischen Bürgern, unten in der Stadt.

In einer Nebenstraße, so gesichtslos wie das ganze Viertel, kehren wir ein in die „Taverna Trola“. Zwischen Weinfässern und einem gewaltigen Kühlschrank aus der Gründerzeit erzählt der Wirt, der stolz auf seine Freundschaft mit dem Schriftsteller ist, von der Zeit nach dem Krieg, als sich die antifranquistischen Widerständler aus dem südfranzösischen Exil zurückwagten, um hier in seiner Kneipe konspirative Pläne zu schmieden. Bei Rotwein und grünen Oliven betrachten wir Zeitungsausschnitte und Fotos. Noch heute wird hier mehr spanisch gesprochen als katalanisch.

Die Problematik der Zweisprachigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Reiseprogramm. Català, die katalanische Sprache, wird von rund neun Millionen Menschen gesprochen, im Norden Spaniens, auf den balearischen Inseln und selbst im sardischen Alghero. Heute allgegenwärtig in den Straßen Barcelonas, war die Regionalsprache bis zum Tode Francos im Jahre 1975 verboten. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund ist das Katalanische zu einem Gut geworden, das verfassungsrechtlich geschützt ist. Natürlich betrachtet sich die Autonome Region Katalonien als Teil des Staatsgebildes Spanien. Doch man pocht auf kulturelle Autonomie.

Xavier Giró, Chefredakteur bei der linken politischen Monatsschrift El viejo topo (Der rote Maulwurf), bezeichnet sich als „Roten“, dem schon unter Franco Nationalismus und Gleichmacherei ein Greuel war. Gerade deshalb tritt Giró für die katalanische Kultur ein: „Ich finde es wichtig, daß man in diesem Land beide Sprachen benutzen kann. Jeder, der hier lebt, sollte mit Spanisch und Katalanisch klarkommen können. Und das Katalanische ist gegenüber dem in Medien und Büchern dominierenden Spanischen noch immer im Hintertreffen.“ Jordi Coca schreibt wie die meisten auf katalanisch: „Ich kann auch auf castellano schreiben und tue es mitunter auch. Aber meine Generation hat für die kulturelle Eigenständigkeit Kataloniens gekämpft, und daran halte ich fest.“

Wir sind im Konferenzsaal des altehrwürdigen Institut del Teatre, deren leitendes Mitglied der Schriftsteller Coca ist. Es ist stickig. Klaviermusik dringt durch die geöffneten Fenster aus dem Hof. Im zweiten Stock probt eine Ballettklasse, darüber üben sich zwei junge Männer an klassischem Flamenco. Fünfhundert junge Leute lassen sich hier in Schauspiel, Bühnenbild, Regieführung, klassischem und modernem Tanz ausbilden. Coca kennt das Institut seit fast dreißig Jahren, die letzten Jahre der kulturellen Agonie unter Franco hat er dort erlebt und die Aufbruchstimmung in den späten siebziger und den achtziger Jahren.

Draußen, in den engen, geschäftigen Gassen der gotischen Altstadt, gehen die Diskussionen weiter. Wir reiselustigen Mitteleuropäer, die es so gerne in die Ferne zieht, können nicht recht verstehen, wie man sich so mit der eigenen Kultur beschäftigen kann. Ist das nicht alles ein bißchen provinziell? Enrique, in der Schweiz lebender Katalane, kontert: „Sprache, das ist Kultur, das Katalanische ist meine Identität! Ihr Deutschen könnt das eben nicht verstehen, ihr habt nie die Erfahrung machen müssen, daß die Sprache verboten wird, die ihr sprecht.“

In Barcelona, wie überall in Spanien, waren die Franco-Jahre eine bleierne Zeit. Bis zum Tod des Caudillo wurde zensiert und verboten, an den Schulen wurde ausschließlich in spanischer Sprache unterrichtet. Die selbstbewußte katalanische Bürgerkultur war den Faschisten im zentralistischen Franco-Spanien höchst suspekt. Doch die Katalanen ließen sich nicht unterkriegen, sie nutzten jeden noch so kleinen Spielraum, den ihnen das Regime bot. In kleinen, halbprivaten Zirkeln und im nahen Ausland führten sie fort, was offiziell nicht möglich war. Enrique erinnert sich an seine Kindheit und Jugend: „Damals, Anfang der siebziger Jahre, ging hier gar nichts. Wenn wir katalanische Chansons hören wollten, sind wir immer nach Andorra gefahren oder nach Südfrankreich, alle haben sich dort getroffen.“

„Die Pfarrkirche steht genau an der Stelle, an der drei graue Welten aufeinandertreffen. Auf der einen Seite die breite Allee, die einst eine berühmte Vergnügungsmeile war, (...) mit Theatern jeder Form und Größe und für jeden Geschmack, (...) es gibt keine traurigeren Ruinen als die Ruinen der Lust- und Vergnügungstempel. (...) Auf der anderen Seite die Straße, die zur Markthalle führt, zum Zentrum, eine Straße, in der anständige Bürger leben, Frühaufsteher, auch an kalten Wintertagen, die zur Arbeit gehen, die sonntags Kuchen essen und ewig verlegen lächeln, eine Straße mit Anwohnern, die alt geboren wurden und nie merkten, wie die Zeit verging. (...) Die dritte Welt, schließlich, die an die Pfarrkirche grenzt, das sind Balkone mit zum Trocknen aufgehängter Wäsche, und von ihnen herab dringt das Geschrei der Frauen, die sich ununterbrochen beschweren, bei der Nachbarin, bei den Gassenjungen, die ihnen Streiche spielen, beim Ehemann, der trinkt und in der nächsten Kneipe seine Fußballmannschaft hochleben läßt, eine Welt voller Augen, die gierig Leben suchen, wo es kein Leben gibt.“

Amadeu Martin, groß, lebhaft und leutselig, zeigt uns lichtlose Gassen, verfallene Hinterhöfe und Abrißfassaden, an denen noch die Umrisse früherer Treppenhäuser sichtbar sind. Hier, im Barrio Chino, Rotlichtbezirk und Sanierungsviertel, spielt sein Kriminalroman: Eine Geschichte um einen wahnsinnigen Massenmörder, der sein Unwesen treibt in einer Stadt voller Angst. In der Pfarrkirche hat Martin in den fünfziger, sechziger Jahren als Pfadfinder gearbeitet, hat für die Kinder des Viertels Theateraufführungen und Spiele organisiert, um sie von der Straße zu holen.

Vom Barrio Chino gelangen wir zum Parallelo, der Magistrale, die von der Placa Espagna zum Hafen führt. Vor einem Varieté, das in grellen Buchstaben eine spanischsprachige Broadway-Inszenierung ankündigt, bleiben wir stehen. Amadeu Martin weist auf eine unscheinbare Bar an der Ecke gegenüber, umgeben von Sexshops und Eros-Centern: „In den zwanziger und dreißiger Jahren, vor dem Bürgerkrieg, hat mein Onkel hier Bandoneon gespielt, in einer Tangokapelle. Am Abend kamen die anarchistischen Arbeiter hierher, um sich zu amüsieren...“

Später am Abend kehren wir müde gelaufen in der Casa Leopoldo ein, einem Feinschmecker-Lokal und Literaten-Treff. Das Mahl reißt tiefe Löcher in die Geldbörsen. Egal, zu köstlich sind die Krustentiere und katalanischen Weine und zu amüsant die Gespräche mit Martin, der unsere Gesellschaft sichtlich genießt. Kaum zu glauben, daß dieser Charmeur derart abgründige Roman-Charaktere zu entwerfen vermag!

Irgendwann landen wir im Pipa- Club, wo die Pfeife rauchenden Intellektuellen und Jazz-Liebhaber sich ein Stelldichein geben. In der Beletage an der palmenbestandenen Placa Reial stehen die hohen Fensterläden weit offen, der Abend ist warm, der Platz überfüllt mit Vergnügungssüchtigen, Pennern und Touristen. Von den Wänden im Club sehen uns die Pfeifenraucher Sherlock Holmes und Doctor Watson an. Mein Sektglas geht zu Bruch. Gern glaube ich die Fabel, daß hier ein Geist umgeht...

Allzu schnell geht die Woche zu Ende, in dieser geschäftigen Stadt voller Widersprüche mit den zwei Sprachen. Besonders Sabine, die Düsseldorferin, ist traurig, wie immer, wenn sie ihr geliebtes Katalonien verlassen muß. Doch wir fahren auch voller Ideen nach Hause, voller Lust, mehr zu erfahren, mehr zu lesen. Pläne werden geschmiedet: Rosella, die italienische Dolmetscherin mit Wohnsitz in der Schweiz, denkt darüber nach, die Bücher Jordi Cocas ins Deutsche zu übersetzen. Angela, die Salzburger Romanistin, hat mal wieder interessante Anregungen für ihre Arbeit erhalten. Abends bei einem letzten Glas Rotwein denkt Michael laut nach über zukünftige literarische Reiseprojekte: Vielleicht nach Madrid und Andalusien, auf den Spuren von Cervantes und dem Cid...?

Die Reise „Barcelona literarisch“ wurde organisiert vom Verein für Arbeitsorientierte Erwachsenenbildung (VAE), Rotlintstr. 70, 60316 Frankfurt. Weitere literarische Reisen sind in Vorbereitung.

Literatur:

Isabel-Clara Simó, „Idols“,

Barcelona 1985

Juan Marsé, „Ronda del Guinardó“, München 1992

Andreu Martin, „Die Stadt, das Messer und der Tod“,

Moos & Baden-Baden 1994

Quim Monzó, „Der Grund der Dinge“, Frankfurt 1995

Sergi Pàmies, „Du solltest dich in Grund und Boden schämen“,

Frankfurt 1996