Auf bitterem Feldweg

Die Literaturzensur der DDR war nicht mehr als ein Stolpern von Fall zu Fall, aber sie hat Kreativität verschwendet und Biographien zerstört  ■ Von Peter Walther

Für den 23. April 1963 ist im Terminkalender von Erich Wendt im DDR-Kulturministerium eine mehrstündige Aussprache mit Paul Wiens vorgemerkt. Einziger Gesprächsgegenstand zwischen dem Staatssekretär und dem Lyriker: ein neues Gedicht von Wiens, dessen Veröffentlichung im geplanten Band umstritten ist. Von solch hochgestellter Aufmerksamkeit für die Früchte ihres literarischen Bemühens konnten die Autoren im Westen nur träumen. Im Osten gehörte es dagegen zum Alltag, daß Leute wie Alfred Kurella, Alexander Abusch, Wilhelm Girnus und Kurt Hager, die als eine Art literarisches Quartett der SED agierten, durch ihr Verdikt eine schon gedruckte Auflage zu Makulatur werden ließen. Von außen betrachtet – etwa im westdeutschen Feuilleton der sechziger Jahre – schien die Sache glasklar: hier die repressive Staatsmacht – dort die gemaßregelten Autoren.

„Jedes Buch ein Abenteuer“ heißt die jüngste Publikation zum Zensur-System in der DDR bis zum Ende der sechziger Jahre, die dem schönen Bild vom bösen Staat und den tapferen Dichtern ein paar arge Schrammen verpaßt. Die drei Autoren vom Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam, Simone Barck, Martina Langermann und Siegfried Lokatis, haben Unterlagen aus dem Archiv des Kulturministeriums und aus dem SED-Archiv gesichtet und darüber hinaus Zeitzeugen konsultiert. Was kundige Beobachter wie Manfred Jäger mit Blick auf die späte DDR schon vor Jahren formuliert haben, läßt sich nun anhand des hier zusammengetragenen Materials belegen: Jene im Westen dämonisierte homogene „Literaturpolitik“, die sich in den Köpfen der SED-Funktionäre spiegelbildlich als „Parteilinie“ wiederfindet, hat es in Wirklichkeit nie gegeben. War dann alles nur Kalte-Kriegs-Propaganda oder gar die Ausgeburt reizbarer Autorengemüter?

Das Buch über die Zensur in der DDR ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen des Apparats staatlich gelenkter Literaturverhinderung. Im Mittelpunkt steht dabei die Arbeit des Amts für Literatur, der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel und deren Verhältnis zum Mitteldeutschen Verlag, der sich seit Proklamierung des „Bitterfelder Wegs“ (des „Bitteren Feldwegs“, wie selbst auf den Funktionärsetagen gespöttelt wurde) zum „Leitverlag“ für DDR-Gegenwartsliteratur entwickelt hatte. Weitere Beiträge befassen sich mit der literarischen Zeitschriftenlandschaft und den Dimensionen literaturkritischer Arbeit. In den Blickpunkt geraten all jene Momente, die den Alltag zensorischen und verlegerischen Lebens ausmachten: Konkurrenz und Abstimmungsprobleme zwischen den Institutionen, ökonomische Gesichtspunkte, persönliche Querelen und Eitelkeiten, Zufälligkeiten in der Entscheidungsfindung und die verschiedenen Wellen der ideologischen Offensive gegen eine vermeintliche oder wirkliche Aufweichung der wissenschaftlichen Weltanschauung. Als größtes Dilemma für die Kulturpolitiker erwies sich bald, daß Literatur nicht zu planen war, sondern ihr Erscheinen immer aufs neue zur Stellungnahme zwang. Dies hatte einen aufwendigen Gutachter- und Zensurapparat zur Folge. Prinzipiell befanden sich die Mitarbeiter der Zensurbehörde bei der Durchsetzung kulturpolitischer Leitlinien in einer Zwickmühle. Selbst zumeist literarisch gebildet, fiel ihnen in den fraglichen Fällen die undankbare Rolle zu, statt ästhetisch begründeter politisch-taktische Entscheidungen zu fällen. So muß es nicht verwundern, daß sich die Zensoren, wie Lokatis belegt, mehrfach für die Abschaffung der von ihnen geübten Zensur einsetzten.

Freilich liegt es dem Verfasser fern, die Mär vom gebeutelten Funktionär zu spinnen, der nie so konnte, wie er gern gewollt hätte. Vielmehr wird deutlich, daß das System staatlicher „Literaturlenkung“ bei der Förderung von Mittelmaß und bei der Unterdrückung von ästhetisch wie politisch nonkonformer Literatur seine eigene Dynamik entwickelte. Wer als Institution oder als Person seinen Einfluß mehren oder wenigstens erhalten wollte, tat gut daran, ideologisch immer ein bißchen wacher und eifriger zu sein als der Konkurrent. Auf diese Weise konnten wiederum Freiräume erkämpft werden, die bisweilen für die Durchsetzung umstrittener Werke genutzt wurden. Da dies alles hinter der Bühne geschah, nahm sich jede negative Entscheidung der Zensurbehörde wie ein Signal ideologischer Verhärtung aus, während die genehmigte, also zitierfähige Literatur ein beinahe kanonisches Gewicht bekam, einen quasi offiziellen Charakter. Die Zensoren stellten sich den Autoren oft als Partner vor, man war beidseitig bemüht, den Eklat zu vermeiden, den eine Nichtveröffentlichung bedeutete. Dabei ließen sich die Schriftsteller die eine oder andere anstößige Formulierung abringen. Andererseits konnte es geschehen, daß Autoren und ihre Werke gerade in die Mühle des Kompetenzgerangels gerieten. Selten ging die Sache so glimpflich aus wie im Fall des Parteischriftstellers Karl Mundstock, der ein halbes Jahr auf eine Druckgenehmigung warten mußte und als Schadenersatz für diesen „Amtsmißbrauch“ sich von der Hauptverwaltung Verlage einen Skiurlaub vermitteln ließ.

Dies alles machte den Alltag der Behörde aus, daneben gab es jedoch immer wieder Versuche, den Selbstlauf der Bürokratie zu durchbrechen und deren gebündelte Kraft für kulturpolitische Kampagnen einzusetzen. So etwa, als es 1957 in einer ideologischen Offensive darum ging, die ohnehin halbherzig vorangetriebene Entstalinisierung wieder einzudämmen. Mußten zuvor sämtliche Verlagsprodukte auf Stalin-Zitate durchgesehen werden (allein im Dietz-Verlag waren 16.000 Stalin- und 13.000 Malenkow-Porträts einzustampfen), hatte der sowjetische Tauwetter-Schinken „Schlacht unterwegs“ von Galina Nikolajewa solche Probleme mit der Zensur, daß Eingeweihte den Titel bereits in „Unterwegs geschlachtet“ umtauften. Wer heute die Industrie-Epopöe über nachlässig gefertigte Gußformen, Früh- und Spätschicht im Traktorenwerk und die Liebesaffäre eines Ingenieurs liest, wird die Aufregung von damals kaum noch verstehen. 1959 wurde mit der 1. Bitterfelder Konferenz jene Kampagne ausgelöst, durch die sich der Mitteldeutsche Verlag in Halle zu einem der privilegierten Unternehmen aufschwingen konnte. Er hatte das Glück, Otto Gotsche zu seinen Autoren zu zählen, den Sekretär von Ulbricht und Initiator der Bitterfelder Bewegung, der für die eine oder andere Tonne zusätzlichen Papiers sorgte. Darauf wurden dann vornehmlich seine eigenen Bücher gedruckt.

Die Beiträge von Simone Barck und Martina Langermann lenken den Blick zurück auf die Vorgänge vor den Kulissen des Literaturbetriebs, auf die literarische Teilöffentlichkeit, wie sie sich in den Debatten, Zeitungsberichten und in der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur (NDL) manifestiert. Hier gab es eine Reihe von Möglichkeiten, die öffentliche Wahrnehmung der Texte zu steuern. Rekonstruiert werden u.a. der Verlauf und die Hintergründe der Lyrikdebatte in der Studentenzeitschrift Forum 1966 und die Auseinandersetzungen um Werner Bräunigs Roman „Rummelplatz“, der nach einem Vorabdruck in der NDL dem Verdikt des obersten Literaturkritikers Walter Ulbricht zum Opfer fiel. Die Geschichte der Zensur stellt sich anhand der im Band ausgebreiteten Dokumente als die planlose Flucht von einer Verlegenheit in die nächste dar. Was so harmlos klingt, hat in der hermetischen DDR-Wirklichkeit für eine beispiellose Verschwendung literarischer Kreativität gesorgt und zahlreiche Biographien zerstört. Daß dieses System auch seine banalen Seiten hatte, wird an den Vorgängen im Asservatenlager der Ostberliner Zollverwaltung deutlich. Dort gingen die Vertreter der Hauptverwaltung Verlage, des zentralen Antiquariats der Volksbuchhandlung und der Deutschen Bücherei in Leipzig ein und aus und stritten um die Verteilung der vom Zoll beschlagnahmten Westliteratur. Die besten Karten hatte sich die Deutsche Bücherei gesichert: Sie ließ sich das „Vorgriffsrecht“ von Walter Ulbricht bestätigen.

Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis: „Jedes Buch ein Abenteuer. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre“. Akademie-Verlag, Berlin 1997, 453 S., 78 DM