Blaues Wirtschaftswunder für Alte

Im wohlhabenden Hongkong sind alte Menschen die Verlierer. Eine Rente gibt es nicht, und das Sozialsystem ist völlig unzureichend. Die Selbstmordrate ist eine der höchsten der Welt  ■ Aus Hongkong Sven Hansen

Madame Ho, wie Ho Yee Tai genannt wird, hat ihre schwarzen, mit grauen Strähnen durchzogenen Haare sorgfältig nach hinten gekämmt. Sie trägt eine blaugrau gemusterte Bluse, eine dünne graue Hose und billige lila Plastiklatschen, verziert mit den olympischen Ringen. Die kleine 75jährige Frau ist zum Glück noch rüstig. Denn in dem heruntergekommenen Altbau, in dem sie im achten Stockwerk wohnt, gibt es keinen Fahrstuhl. Die Witwe teilt sich einen 35 Quadratmeter großen Raum im Stadtteil Sham Shui Po auf der Halbinsel Kowloon mit fünf anderen Haushalten und insgesamt zehn Personen.

Hos „Wohnung“ ist ein 3,5 Quadratmeter großer fensterloser Bretterverschlag. Die Miete ist mit umgerechnet 110 Mark günstig. Der Makler forderte für die Vermittlung eine Monatsmiete. Ho ist ihm dankbar. Als Analphabetin wäre sie ohne ihn kaum an die günstige „Wohnung“ gekommen.

„Das Bett hat mir der Nachbar von gegenüber gebaut“, sagt sie. Es besteht aus einer ungestrichenen Sperrholzplatte und nimmt über die Hälfte des Verschlages ein. Dessen vergilbte Holzwände sind nach oben offen. Das ermöglicht eine Zirkulation der stickigen Luft, aber der Lärm dringt ungehindert ein. Das Gebäude liegt in der Einflugschneise des Flughafens. Alle paar Minuten donnern Jets im Landeanflug über das Haus und unterbrechen das Gespräch.

Hos „Zimmer“ ist mit einem Klapptisch, einem kleinen Schränkchen, einer Minikommode und zwei Klappstühlen eingerichtet. An der Wand hängt ein Kalender, auf einer Stange hängen drei Blusen. Unterm Bett steht eine rote Plastikschüssel, auf dem Tisch ein Ventilator, ein elektrischer Reiskocher und eine Thermoskanne. Das ist ihr ganzer Besitz.

Vor einem Jahr verlor die 75jährige ihre Arbeit. „Mein Arbeitgeber hat mich gedrängt, aufzuhören, weil ich immer öfter krank wurde.“ Die vergangenen 14 Jahre hat sie als Hausangestellte gearbeitet. Sie verdiente 880 Mark im Monat bei freiem Wohnen und Essen. Obwohl ihr Freunde damals wegen der schlechten Bezahlung abgeraten hatten, nahm Ho die Arbeit an. „Es ist schwer, im Alter überhaupt einen Job zu finden.“

Das Pro-Kopf-Einkommen liegt in Hongkong bei 25.000 US- Dollar. Während die Wahrscheinlichkeit nirgends größer ist, von einem Rolls Royce überfahren zu werden, erfroren im Februar 1996 112 Menschen. Mit unter 10 Grad plus herrschten eine Woche lang im sonst fast tropischen Hongkong die kältesten Temperaturen seit fünfzig Jahren.

„In Hongkong konzentrieren sich zu viele nur auf politische und bürgerliche Rechte und vergessen die sozialen“, sagt Ho Hei Wah von der unabhängigen „Society for Community Organisation“ (Soco). „Unsere Wirtschaftskraft macht uns zum Teil der Ersten Welt, aber unser Sozialsystem hat Dritte- Welt-Standard. Hätte die britische Kolonialregierung die hiesige Sozialpolitik in Großbritannien verfolgt, wäre die Konservative Partei viel früher abgewählt worden.“

Der Höchstsatz der Einkommensteuer beträgt in Hongkong nur 15 Prozent. Da bleibt nicht viel für staatliche Ausgaben. Nach Studien von Sozialwissenschaftlern leben rund 10 Prozent der Bevölkerung in absoluter Armut. Davon erhält nur ein Drittel staatliche Hilfe. Nach Angaben des Rates für soziale Dienste, eines Zusammenschlusses von Wohlfahrtsverbänden, müssen 142.000 Haushalte ihre Ausgaben für Lebensmittel einschränken, um die Miete zahlen zu können. Hongkongs Mieten gehören zu den höchsten der Welt. Über die Hälfte der Bevölkerung lebt in Sozialbauten, doch die Wartezeiten für eine preiswerte Wohnung betragen sieben Jahre. Es gibt keine staatliche Rentenversicherung. Bei Lebenshaltungskosten fast so hoch wie in Deutschland bekommt Madame Ho 455 Mark Sozialhilfe im Monat, etwas mehr als zwei Drittel des Höchstsatzes.

Nachdem Ho ihren Job verloren hatte, zog sie zunächst zu ihrer Tochter in die chinesische Nachbarstadt Shenzhen. Da diese zwei Kinder zu versorgen hat, konnte sie Ho nicht lange unterstützen. Die alte Frau ging wieder nach Hongkong. Dort wurde ihre Hilfe gekürzt, weil sie die letzten Monate in China verbracht hatte. Mit den 455 Mark kann sie gerade überleben. Den gelegentlichen Besuch einer Nudelküche kann sie sich aber nicht leisten.

Besonders Ältere sind in Hongkong von Armut betroffen. Von den 6,3 Millionen Einwohnern sind 910.000 über 60 Jahre alt. „Hongkong hat unter alten Menschen eine der höchsten Selbstmordraten der Welt“, sagt die Sozialforscherin Alice Chong Ming-lin von der City University. „Die Selbstmordrate der über Sechzigjährigen liegt bei 28 von 100.000 gegenüber 12 im Bevölkerungsdurchschnitt.“ Armut sei einer der Hauptfaktoren.

Der künftige Regierungschef Tung Che-hwa, einer der reichsten Männer der Stadt, hat in seinem Schattenkabinett den Peking-nahen Gewerkschaftsführer Tam Yiu-chung beauftragt, sich der Probleme der Alten anzunehmen. Tam gilt als soziales Feigenblatt der von Geschäftsleuten dominierten Schattenregierung. „Die Sozialhilfe für Alte muß steigen, die Sozialdienste müssen verbessert und ausgeweitet werden“, sagt Tam. Konkrete Schritte will er jedoch noch nicht nennen.

Mitte Mai wurde bereits die Entscheidung über einen Antrag einiger Abgeordneter des Übergangsparlamentes vertagt, die die monatliche Hilfe für Alte pauschal um 70 Mark erhöhen wollten. Unter dem scheidenden britischen Gouverneur Christopher Patten wurden die Sozialausgaben in den vergangenen fünf Jahren um real 70 Prozent erhöht. Ihr Anteil am Gesamtbudget stieg jedoch kaum. Zugleich erhöhte sich die Zahl der Sozialhilfefälle von 82.000 auf 166.700. Die sich kommunistisch nennende chinesische Regierung griff Patten, einen ehemaligen Vorsitzenden der britischen Konservativen Partei, wiederholt wegen der Erhöhung der Sozialausgaben an. Denn China will, daß Hongkong Überschüsse macht. Sie betrugen im vorigen Jahr 3,35 Milliarden Mark.

Die Analphabetin Ho wäre ohne die Sozialarbeiterin von Soco nicht in der Lage gewesen, überhaupt Unterstützung zu beantragen. „Das System ist sehr kompliziert“, sagt Ho mit einem Kopfschütteln. Hongkongs Elite hält nichts von höheren Sozialausgaben, sieht aber ein, daß aus Gründen der Stabilität etwas für die Ärmsten getan werden muß. „Das sind die Menschen, die unsere robuste freie Marktwirtschaft nicht immer angemessen belohnen kann“, meint der künftige Regierungschef Tung bei einem Wohlfahrtsdinner zur Eröffnung des neuen Kongreßzentrums.

Der über eine Milliarde Mark teure Prachtbau ähnelt dem Opernhaus in Sydney. Damit in der Nacht auf den 1. Juli beim Bankett mit 4.000 Gästen zur Übergabe Hongkongs nichts schiefgeht, wird schon einmal geübt. Im Saal zwei im dritten Stock wird ein Essen für 2.800 Personen gegeben. Hongkongs Elite strömt auf roten Teppichen in das neue Gebäude und feiert sich selbst bei Champagner und Riesengarnelen. Die Reichen geben sich dabei dem Gefühl hin, Gutes zu tun. Pro 12-Personen-Tisch haben sie 2.200 bis 22.200 Mark gezahlt. Alle 227 Tische sind besetzt. Für die Wohlfahrt kommen 1,55 Millionen Mark zusammen.

„Es mag als Widerspruch erscheinen, daß wir mit teurem Essen Geld für die Armen sammeln, aber so funktioniert das hier. Das eine Million Dollar (220.000 Mark) teure Essen haben Firmen gesponsort, die sich dafür präsentieren konnten. Uns kamen alle Einnahmen zugute“, erklärt Darwin Chen vom Community Chest, einem industrienahen Wohlfahrtsfonds. Statt staatlicher Sozialleistungen bevorzugen Hongkongs Tycoone noble Wohlfahrtsdinner und Firmenspenden, bei denen sie sich medienwirksam als gemeinnützig präsentieren können.

Der Community Chest wurde 1968 nach sozialen Unruhen gegründet. 1996 wurden 41,8 Millionen Mark an 140 Wohlfahrtsverbände überwiesen. Alle Einnahmen des professionell verwalteten Fonds fließen in die Wohlfahrt. Die Verwaltungskosten trägt der Hongkong Jockey Club, dem dafür Steuern erlassen wurden. Wie im Jockey Club geben auch beim Community Chest Unternehmer den Ton an und entscheiden, wer gefördert wird und wer nicht. „Wir überlegen uns natürlich zweimal, ob wir eine Organisation fördern, die den Interessen der Industrie schadet“, sagt Chen in seinem Büro im 18. Stock eines Hochhausturms aus Marmor und Glas. „Wir geben den Spendern ein gutes Image und dienen der Harmonie.“ Der Chest biete Unternehmern die Chance, in seinen Komitees gesellschaftliche Führungsqualitäten unter Beweis zu stellen. Im politischen System der Kolonie sei dies bis vor kurzem kaum möglich gewesen. Mit dem Großreeder Tung wird am 1. Juli ein Tycoon Regierungschef, der zehn Jahre Gremien des Chests geleitet hat. „Wir haben einen wahren Führer geschaffen“, so Chen stolz.

Auch Sozialarbeiter Ho beantragte beim Community Chest Geld für seine Organisation Soco. Sie kämpft für 3.000 sogenannte „Käfigmenschen“, die noch eine soziale Stufe unter Madame Ho in bettgroßen Gittercontainern leben. Soco machte das krasse Elend international bekannt. Doch der Chest ordnete Soco als politisch und damit als nicht förderungswürdig ein. Erst nach kritischen Presseberichten werden Soco seit kurzem zwei Sozialarbeiter für die Käfigmenschen finanziert. Eine einzigartige Ausnahme, so Chen.

Die Rückgabe Hongkongs an China läßt Madame Ho kalt. In Hongkong oder China zu leben mache für sie als alte Frau keinen Unterschied. „Ich kann sowieso nichts ändern“, sagt sie. Gern würde sie bei ihrer Tochter und den Enkeln leben. Die würden auch nach Hongkong kommen, dürfen aber nicht. Ho will deshalb wieder zu ihrer Tochter nach Shenzhen. Seit April wird Sozialhilfe auch an Bürger Hongkongs ausgezahlt, die in China leben. Damit kommen die Behörden nicht nur den Alten entgegen, die bei Verwandten jenseits der streng bewachten Grenze leben wollen, sondern entlasten auch Hongkongs soziale Einrichtungen und den Wohnungsmarkt.

Doch wer Sozialhilfe in China beziehen will, muß zuvor drei Jahre Unterstützung in Hongkong erhalten haben. Bis dahin würde Ho gern in einem tieferen Stockwerk oder in einem Haus mit Fahrstuhl leben. Das Treppensteigen fällt ihr mittlerweile doch schwer. Mit Hilfe von Soco hat sie eine staatlich geförderte Wohnung beantragt. Auch darauf muß sie Jahre warten.

„Kommen Sie bald wieder“, sagt Madame Ho zum Abschied in das Donnern eines Flugzeuges hinein. „Ich bekomme so selten Besuch.“