Obdachlos

■ Vom fernen Leben der Mitmenschen

Meine Armut kotzt mich an“, „Es wird enger, Freunde“, „Die Zukunft liegt schon hinter uns“, „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit“, Autoaufkleber mit diesen und ähnlichen Botschaften führt heute jede Autozubehörabteilung in Supermärkten und Kaufhäusern. Sie sind für jene Kunden, die ihren drohenden Abstieg schon mal ironisch umspielen möchten, den bereits abgestiegenen fehlt die Werbefläche; Sozialhilfeempfängern steht kein Auto zu. Solchen Kandidaten ist die Tafel zugedacht, die im öffentlichen WC am Markt in der Augustastraße hängt: „Zweckfremde Benutzung, unberechtigter Aufenthalt und Beschädigung werden nach §§ 123, 303 ff St.G.B. verfolgt. Berliner Stadtreinigungsbetriebe“. Für beide Delikte drohen, laut Strafgesetzbuch, insgesamt bis zu drei Jahren Gefängnis. In der Schloßstraße vor dem Kaufhaus Wertheim steht eine fünf Mann starke Blaskapelle und spielt abwechselnd Jazz und Klassik. Im blau gefütterten Instrumentenkasten liegen schon einige Fünfziger und Markstücke unter einem Pappschild mit der Aufschrift: „Für Sie spielen Meister aus St. Petersburg. Wir wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute. Es möge Ihnen Gott Glück geben.“ Das haben die Passanten bitter nötig. Seit Leningrad wieder St. Petersburg heißt, geht es abwärts mit dem Kapitalismus in Europa. Das durchsetzungsfähigere System hat zwar gesiegt, dem altgedienten Klassenfeind kam aber mit dem Tod des unentbehrlichen Gegenspielers offenbar auch jede Lebensfreude abhanden. Ganz besonders in Deutschland. Inmitten eines wahnsinnig gewordenen Reichtums und monströser Repräsentationswut mehren sich die Zeichen schwerer Verwahrlosung: Unkraut überwuchert schulterhoch die öffentlichen Anlagen, Springbrunnen stehen ohne Wasser da und füllen sich mit Müll, öffentliche Wannen- und Schwimmbäder werden geschlossen. Von der Straßenreinigung bis hin zur Versorgung bei Krankheit, Armut und Alter wird eine öffentliche Zuständigkeit zunehmend geleugnet. Daß unsere Armen, Ausgesonderten und Nichtverwendungsfähigen noch nicht in Kartons auf unseren Geschäftsstraßen liegen, beweist nichts, sie liegen anderswo. Arme und Passanten sind noch nicht soweit, sich gegenseitig zu ignorieren. Die Wege der ungleichen Bürger kreuzen sich und streben wieder auseinander, keiner weiß vom anderen, wohin es geht.

Die dunkle Kuppel der Heilig- Kreuz-Kirche, flankiert von Backsteintürmchen, ist schon von weitem zu sehen. Wer mit der U-Bahn nach Kreuzberg fährt und sie erblickt, weiß, daß als nächste Station Blücherstraße kommt. Die Kirche, im Krieg abgebrannt und danach wieder aufgebaut, wurde vor einigen Jahren renoviert und mit viel Glas und Stahl innen und außen modernisiert. Seither ist sie Gemeindezentrum für mehrere Gemeinden, Kulturzentrum für diverse Stadtteilgruppen, Veranstaltungsort für Konzerte und Ausstellungen. Es gibt Fußbodenheizung, ein Gemeindecafé und eine Regenwassersammelanlage, vom Kirchendach direkt ins WC. Die einzelnen Kirchenräume kann man mieten, der große Kirchenraum für 500 Personen kostet 500 Mark, eine Mark pro Person und Tag, inklusive Flügel. Jeden Mittwoch von 14-18 Uhr steht der kleine Saal für Bedürftige als „Café Obdachlos“ zur Verfügung.

Als wir uns der Kirche nähern, ist es halb zwei. Vor uns geht eine alte Frau mit sehr starken Brillengläsern und setzt sich nach kurzem Zögern an der Tür auf eine der Bänke vor dem Eingang. Auf der anderen Bank sitzen einige zerlumpte Punks in schwarz, umlagert von einer friedlichen Hundemeute. Nach und nach wird es voller, und bald streben alle nach innen, ins Warme. Im kleinen Saal sind die Tische gedeckt für etwa achtzig Personen. Die Punks haben sich hinter einer Säule aus rosa Sandstein mit weißem, korinthischem Kapitell niedergelassen. Dort haben sie unter einem Backsteingewölbe ihren eigenen großen Tisch, wegen der Hunde. An den übrigen Tischen ist für jeweils sechs Leute Platz. Durch eine gläserne Schiebewand blickt man in den Kirchenraum, ein Rondell unter der hohen Kuppel, ohne Altar.

Wir nehmen Platz an einem der Tische neben dem Eingang, insgeheim wohl, um im Bedarfsfall umstandslos das Weite suchen zu können. Die gläserne Tür öffnet sich, die gläserne Tür schließt sich, und jedesmal kommt einer herein, der überraschend häßlich oder gutaussehend, betrunken, abgefetzt, wohlgekleidet, verdreckt oder auch seltsam gewandet ist. Der Bevölkerungsdurchschnitt in den südlichen Stadtbezirken sieht vollkommen anders aus, es ist nicht nur die Gepflegtheit des Reichtums, die den Unterschied ausmacht. Es ist der ganze Körperwuchs, die Beschaffenheit von Haut und Haar, die verraten, daß die Vorfahren der meisten Eintretenden das getan haben, was man „die Knochen hinhalten“ nennt im Volksmund, während die der Wohlgeformteren weniger und anderes hingehalten haben.

Jedenfalls ist die Vielfalt der Gestalten und Physiognomien hier, auf der Schattenseite der Gesellschaft, eine Freude für unsere Augen. Das also sind die Armen. Sie riechen schlecht, saufen, ihre Zähne sind ruiniert, das Haar hängt verfettet auf die Schultern, die Männer sind unrasiert und haben rissige schmutzige Fingernägel, wie von schwerer Feldarbeit. Jedes unserer Vorurteile wird weit übertroffen, nämlich auch vom Gegenteil. Unser Tisch hat sich schnell gefüllt, auch der Nebentisch, flüchtiges Grüßen hin und her, Händereichen zwischen uns hindurch, über unsere Schultern hinweg, und dann tritt ein älterer Herr mit Rüschenschürze über dem Strickpullover näher, reicht jedem die Hand und begrüßt uns mit den Worten: „Ah, zwei neue Gesichter, schön, daß ihr da seid, ich bin Achim, bin hier der Pfarrer.“ Er drückt uns aufmunternd die Hände und geht weiter. Der Schock der Erkenntnis fährt bis tief in die Knochen: Keinem fällt auf, daß wir nicht dazugehören, weder den Armen noch dem Pfarrer – der nun wenigstens hätte bemerken müssen, daß er es mit akademisch gebildeten Leuten zu tun hat. Die Unterschiede sind offenbar weniger eklatant als angenommen. Plötzlich werden Wohnung, Bad, Bücher, Bildung, Arbeit und Bekanntenkreis seltsam künstlich, wie ein Bühnenbild, für ein bürgerliches Stück, das jederzeit abgesetzt werden kann.

Ich eile dem Pfarrer hinterher, er ist auf dem Weg zur Teeküche mit einer Thermoskanne unter dem Arm. Ich stelle Elisabeth und mich vor, erkläre, woran wir arbeiten – was wir, nebenbei bemerkt, ohnehin getan hätten, denn wir wollten uns nicht ins Vertrauen der armen Leute einschleichen – und Pfarrer Achim sagt: „Da habt ihr euch was vorgenommen, ein großes Thema“, lacht und verspricht, den Armen unsere Anwesenheit mitzuteilen. Aus der Teeküche wird nach ihm gerufen, doch bevor er geht, gibt er uns noch einige Kurzinformationen. Das „Obdachlosencafé“ gibt es seit 1990, als sogenannte Wärmestube bekommt die Einrichtung seit neuestem 5 Mark pro Person und Tag, früher waren es 3 Mark. Geldgeber ist die Stadt. Bezahlt wird aber nur für 75 Personen, kommen mehr, muß das Geld aufgeteilt werden. Die Räume und ehrenamtlichen Helfer stellt die Kirche. Hier hat man sich dazu entschlossen, die Gäste zu bedienen, damit sie sich ausruhen können, und nicht, wie in anderen Einrichtungen, anstehen müssen, um ihr Essen in Empfang zu nehmen. Es dürfen alle rein, Betrunkene, Verwahrloste, Hunde, Ratten, nur friedlich muß es zugehen. Keine Gewalt, kein Sexismus, kein Alkohol, keine Drogen in der Kirche. Rauchen ist erlaubt. Wieder ruft man und der Pfarrer enteilt. Später studiere ich einige „Gemeindebriefe“ und erfahre, daß der seltsam tapsige Mann in der Rüschenschürze promoviert ist und sich, das ist seinen kurzen Texten zu entnehmen, für vergleichende Religionswissenschaft interessiert, für die Mythen anderer Völker, für die Zauberflöte und für Thesen wie diese, daß die Taufe eigentlich ein Tötungsritual andeutet.

Im kleinen Saal herrscht eine Atmosphäre und Geräuschkulisse wie im Gasthaus zur Mittagszeit. Geschirr klappert, das Essen wird von einer älteren Frau mit Servierwagen ausgeteilt. Mein Platz am Tisch ist noch frei, Elisabeth sitzt am Nebentisch und unterhält sich mit einem jungen Mann, der aussieht wie ein Indio. Auf ihrem Platz sitzt eine gutgekleidete zierliche Frau Mitte vierzig, sie hat halblanges dunkles Haar, krallenartig verhornte, gelbe Fingernägel und schnell umherhuschende, traurige Augen, umrahmt von Schatten. „Ick hab dir den Platz freigehalten“, sagt sie, ohne mich anzusehen, dann macht sie jene blasebalgartigen Kieferbewegungen, die Zahnlosen eigen ist und fügt hinzu: „Da wollte sich irgend so'n Penner hinsetzen!“ Rechts neben mir hockt ein dünner älterer Mann mit schütterem Haar und ehemals eingeschlagener, schiefer Nase. Seine ganze Körperhaltung, sein gesenkter Blick, die Hände rechts und links neben dem leeren Teller, drücken Bescheidenheit aus. An seiner Seite ist ein stämmiger Alter mit Blindenbinde damit beschäftigt, der vorhin erwähnten Frau mit den dicken Brillengläsern seinen Behindertenausweis zu zeigen. Sie sagt: „Ich kann leider nicht verstehen, was Sie sagen. Ich bin an beiden Augen operiert worden und dabei haben sie den Hörnerv beschädigt. Jetzt bin ich fast taub und halb blind.“ Und der Blinde brüllt ihr ins Ohr: „Ich bin zu achtzig Prozent erblindet!“ Der Herr im Jackett, am Kopfende des Tisches, mir gegenüber, ruft verhalten und mit leichtem Stottern aus: „Man kann auch sagen, ich habe nur noch zwanzig Prozent meines Sehvermögens.“ Er kichert, aber niemand reagiert darauf.

Am Nebentisch ist ein Streit ausgebrochen. Ein igelartig blickendes Männlein, mit zahllosen Falten im Gesicht und flachem Hinterkopf, rückt empört von einem kräftigen, um einiges jüngeren Mann ab, der ein FC-Bayern- Fan zu sein scheint. Er trägt zwei Vereinsschals, dazu ein über und über mit Vereinsemblemen und Wappen benähtes Jäckchen, auf dem Kopf hat er einen Schlapphut aus grünem dickem Filz, der ebenfalls mit Anhängern und Wanderabzeichen besteckt ist. Der kleine, der keine Zähne mehr hat, wirft dem Bayern vor: „Du tust mir zuviel saufen, du. Ich bin froh, daß ich trocken bin, du, das kann ich dir sagen. Geh mir nur von der Pelle, du!“ Alles an diesem vor Erregung bebenden Igel ist graugelb, die Ohren, das stachelig nach vorn stehende Haar, die Nase, die Augen, der Mund. „Leck mich doch, du, mit deinem ewigen du saufst zu viel, du saufst zu viel, was geht das dich an!“ Der Auftritt von einigen wüst aussehenden, laut rülpsenden Punks macht der Auseinandersetzung ein jähes Ende. Sie fragen nach Achim und verschwinden dann Richtung Teeküche. Elisabeth spricht immer noch mit dem Indio, der hält einen grob mit dem Taschenmesser zugespitzten Bleistift sinnend, um dann etwas aufzuschreiben. Er ist aus Kolumbien, hat dort in der Missionsschule Deutsch gelernt. Er gähnt und fragt höflich das neben ihm sitzende Paar, das gerade auf die Uhr gesehen hat, nach der Zeit. „Halb drei“, sagt der Mann mit den dunklen Tränensäcken und dem strähnigen Haar, das ihm an der Stirn klebt. Seine Gefährtin, die etwa Mitte Dreißig ist, unterernährt und bleich, zündet sich eine Zigarette an und sagt, daß sie bald umkommt vor Hunger.

Und schon ist die grauhaarige Frau mit dem Servierwagen da und füllt der Hungrigen den Teller mit Eintopf aus weißen Bohnen. Auch Teller, auf denen sich Wurst- und Käsebrote türmen, werden gebracht. Die zahnlose Frau neben mir sagt nach einigen Löffeln Suppe: „Ich wees nich, isset nur mir so, wejen mein Magen, oder is die zu scharf?“ Der Blinde findet sie viel zu salzig und der Weißhaarige im Jackett sagt: „Ich habe auch Probleme mit dem Magen, da sollte man lieber vorsichtig sein“, ißt aber unverdrossen weiter. Die Taube ißt schweigend, der Zarte mit der eingeschlagenen Nase sagt leise, während er sich über den Teller beugt: „Also mir schmeckt's!“ Die Zahnlose zermalmt die Bohnen zwischen den Kiefern mit unzufriedenem Gesicht: „Da müßte noch'n Brühwürfel rin und vor allem, viel mehr richtijet jutet Fleisch. Die ham Billigbohnen jenommen von Aldi und die Brühe nich wegjegossen, det merke ick.“

Pfarrer Achim leiht sich eine Tasse vom Blinden, der gar nichts bemerkt, hält sie hoch und klopft mit einem Löffel dagegen. Langsam nimmt der Lärmpegel ab. Ins verbleibende Gebrummel hinein ruft er: „Leute, kurz mal herhören, bitte! Ich laß' nun Blätter und Stifte rumgehn, auf die ihr bitte, ausnahmsweise, und nur wer will und kann, eure Namen und Adressen schreibt, damit wir euch dann schriftlich einladen können zum geplanten Ausflug ins Grüne. Schreibt bitte deutlich und die Postleitzahl nicht vergessen.“ Der Pfarrer stellt die Tasse zurück, auf die Untertasse des Blinden, der erstaunt die Brauen hebt. Die Zahnlose ruft ihm zu: „Du wirst det nich globen, ick war ooch ma verreist, in Dellach im Drautal, vor 17 Jahren hab ick da Urlaub jemacht.“ Der Pfarrer kommt um den Tisch herum und fragt: „Wo ist denn das?“ Und während die Zahnlose von Österreich erzählt und mit ihrem langen gelben Fingernagel Lageskizzen auf die Tischplatte zeichnet, erfaßt der mit der eingeschlagenen Nase des Pfarrers Hand mit seinen beiden Händen und blickt geduldig abwartend zu ihm hinauf. „Was ist denn, Peter?“ erkundigt sich der Pfarrer und der Mann sagt, den Tränen nahe: „Mir ham sie meinen Bauwagen geklaut, denk mal, weg, auf Nimmerwiedersehen! Abends war er plötzlich verschwunden.“ Der Pfarrer fragt bekümmert: „Und, was ist nun?“ Worauf der Peter mit den Schultern zuckend sagt: „Wat soll sein, unter freiem Himmel schlaf ich jetzt, draußen in Rudow... und kalt isses, oh Mann, ich frier mir was zusammen in der Nacht.“ Der Pfarrer streichelt die Hand des Mannes, macht sich los und sagt: „Jetzt geh ich sofort in den Keller und hol dir einen warmen Schlafsack, gleich bin ich wieder da.“

Getränke werden ausgeteilt, Kaffee und Tee, je nach Wunsch. Ich frage meinen Nachbarn nach dem Bauwagen. Er zieht ein zusammengeknicktes Bild aus der Tasche und reicht es mir wortlos. Zu sehen ist ein heller Bauwagen mit geschlossenem Fensterladen, der zwischen zwei Autos am Straßenrand steht, mitten im Schnee. „Das isser!“ sagt Peter nach einer Weile. „Da haben Sie auch im Winter drin geschlafen?“ frage ich, und er nimmt mir das Bild aus der Hand und sagt nachsichtig: „Nicht drin, drunter“. Dann hält er mir das Foto hin und zeigt auf einen undefinierbaren Haufen zwischen den Rädern des Wagens: „Da hatte ich Styroporplatten, meine Schaumstoffmatte, Decken, Plastikfolie. Man konnte sich einmummeln, wie man wollte.“ Er macht eine Geste des Zudeckens bis zur Nase, „die kroch überall rein, die Kälte. Der Pfarrer kam mal angefahren, um zu gucken nach mir, da hat er das Foto gemacht. Es war so gut da ... und auch die Leute, die da wohnten, die kamen ja andauernd und wollten helfen, ein bißchen, kamen mit 'ner Thermosflasche. Heißer Tee mit Rum! Und die eine auch, das junge Mädchen, siebenundzwanzig war die erst, war Krankenschwester, die hat mir öfter mal 'ne Wärmflasche gebracht. Ich sagte immer nur, laßt mich doch, es geht schon, ich weiß, ihr wollt mir ja nur helfen, aber laßt es lieber, nich, daß ich mich beklagen tu, aber so wird's mir nur schwerer, das ham sie nich verstanden. Ich bin jeden Morgen froh, wenn die Nacht vorbei is, dann geh ich auf und ab, bis sie aufmachen, da wo ich immer mich waschen und rasieren geh. Weißte, wie schön das is, nach so'ne Nächte, wenn du dann duschen kannst, so lang du willst, wenn das schöne heiße Wasser an dir runterrinnt, und da is kein Schmerz mehr und nichts. Dann habe ich mir schon oft gesagt, Onkel Peter – weil so sag ich zu mir selber, nun biste fast 61, daß du das überhaupt noch aushältst, is erstaunlich, aber langsam mußte mal an deine alten Tage denken ... aber das geht vorbei. Ich werd sowieso nich alt. Dann halt ich mich eben sauber und gesund, so gut es geht ... vor allem sauber!“ Er streckt mir seine Hände hin, dreht und wendet sie und tatsächlich, sie sind weich und rosafarben.

Der Blinde hat die letzten Sätze mitgehört und ruft triumphierend: „Ich hab Wohnung, Badezimmer und alles. Man will doch nicht verkommen! Und wenn ich mal krank werde, dann geh ich ins Urban- Krankenhaus, da tun sie alles für mich!“ Die Zahnlose wirft ein: „Det kannste verjessen, ick laß mir immer ins Klinikum Steglitz legen“, und Peter fügt hinzu: „Nee, das Urban is schlecht, ich bin da mal eingeliefert worden von der Rettung mit zwei gebrochenen Rippen und 'nem kaputten Bein, da ham sie mich stundenlang mit rumsitzen lassen, ohne Behandlung. Die ham mich vergessen. Da bin ich wieder abgehaun, das is dann von alleine geheilt.“ Der Blinde schneidet ein übertrieben verständnisloses Gesicht und sagt: „Also mir hat man da immer tadellos geholfen!“ Der weißhaarige Herr sagt laut: „Die beste Medizin ist Sex“, dann grinst er verlegen. Der Pfarrer kommt mit dem Schlafsack, zieht ihn mühsam aus der Schutzhülle, breitet ihn auf den Boden und kniet sich daneben: „So, das ist ein NVA-Schlafsack, aus der DDR noch, die sind etwas schwerer als unsere Bundeswehrschlafsäcke, aber genau so warm, glaube ich.“ Er faltet den Schlafsack und rollt ihn eng und mit aller Kraft zusammen, so daß es aussieht, als würde er jemand am Boden liegenden erwürgen. „Hergeschaut, Peter, und ihr auch! Jetzt könnt ihr mal sehen, wie ein Geistlicher einen Schlafsack zusammenrollt.“ Die Zahnlose lacht schallend und als trotz des Kraftaufwandes die Rolle nicht ganz in den Beutel paßt, erhebt sich allgemeines Gelächter. Irgend jemand ruft: „Der hat wohl nich jedient!“ und Peter sagt: „Das schaff ich nie, bin schon froh, wenn ich den tragen kann.“ Drei Mann stopfen den Schlafsack gewaltsam in seine Hülle zurück und überreichen das Problem dem neuen Besitzer. Der Pfarrer beugt sich lächelnd noch mal zu Peter hinunter und tröstet: „Vielleicht finde ich einen größeren Beutel, ich schau mal.“ Mich sehend, fragt er: „Habt ihr euch schon bekannt gemacht? Also die beiden Frauen hier, die schreiben über die Armut und die Obdachlosigkeit in Deutschland und wollen mit einigen von euch ein bißchen reden. So und jetzt ist die Kleiderkammer für euch draußen bereit.“

Die Leute stehen auf von den Tischen und eilen zu den Kleidern im Vorraum. An uns herrscht anscheinend kein Interesse, nur der weißhaarige Herr kommt und setzt sich an meine Seite, gibt mir die Hand und sagt einen unverständlichen Namen. Er ist etwa Mitte sechzig, hat leicht schräg geschnittene graugrüne Augen, eine gerade schmale Nase und unauffällige Zähne. Sein Gesichtsausdruck hat etwas fuchsartig Listiges, Unruhiges und leicht Lüsternes. Mit kaum merkbarem Stottern fragt er mich – ich kann kaum antworten – in atemloser Geschwindigkeit ab: „Sie schreiben über die Armen? Sind Schriftstellerin, was? Da schreiben Sie wohl so wie Balzac, so ähnlich? Ich lese den sehr gern, den Balzac. Ham Se viele Bücher? Na, und Balzac ham Sie sicher auch, aber was ham Sie noch alles? Ham Sie auch de Sade, zufällig? Die Philosophie im Boudoir, ja? Welche Ausgabe? Ach, aus den zwanziger Jahren? Das ist ein Privatdruck, der mit den kleinen Bildchen drin, den Stichen? Sehn Se! Und Justine und Juliette? Können Sie mir die mal zeigen, Ihre Ausgabe? Und was haben Sie noch, Iwan Bloch, Neue Forschungen über den Marquis de Sade und seine Zeit, nicht? Der ist 1904 in Berlin rausgekommen, und den Magnus Hirschfeld, den kennen Sie, haben Sie seine Sachen? So einen Arzt und Wissenschaftler gibt es heute gar nicht mehr. Als kleines Kind war ich in seiner Wohnung und hab ihn auch gesehen, aber ich erinnere mich nur noch an die vielen Bücher ... wissen Sie, ich interessiere mich für Sexualwissenschaft und Kulturgeschichte, Sittengeschichte und alles, für alte Erotica. Die Mutzenbacher, die ham Sie sicher auch, na, das is ja nichts Besonderes. Die soll ja der Felix Salten geschrieben haben und Bambi soll er auch geschrieben haben. Wie paßt denn sowas zusammen? Komisch! Ich war ja mal so eine Art Antiquar, früher, mit einem anderen zusammen, der Laden war in Schöneberg. Der Freund ist leider gestorben, vor vielen Jahren, damit war es dann erledigt, das Geschäft, ich hatte ja kein Geld. Einen anderen Freund hab ich, der lebt noch, der hat 3.000 Bücher, wer ihn besucht und wieder geht, muß vorher die Taschen vorzeigen, so ein Büchernarr ist der. Einen Teil hat er im Keller, aus Platzmangel, aber da ist es feucht ... Es ist eine Lust und eine Plage mit den Büchern, ich kenne das genau, ich hab meine ganzen Bücher in Kisten und Kartons, seit Jahren, kann sie nicht auspacken, aus Platzmangel. Ne Wohnung habe ich ja wenigstens, aber meine Bezüge sind ganz klein, was soll ich machen? Ach, Sie, ein neues Buch gibt's, über Heidegger, über sein Liebesleben, wie das war, mit all den Frauen. Die waren ja alle verliebt in ihn, verstehen Sie das? So eine Frau, wie Hannah Arendt und die Ingeborg Bachmann ja am Ende auch, wußten Sie das? Jetzt sollten wir aber mal rausgehn, sonst ist nichts übrig von den Kleidern, ich bräuchte was für Frau P., das ist die alte Dame, die ich pflege. Ach, und wenn Sie heute abend Hunger haben, da empfehle ich Ihnen die City Station, Joachim-Friedrich-Straße 4, Ecke Kurfürstendamm, das ist von der Stadtmission, da geh ich immer hin, essen. Gemüseeintopf 1 Mark, Tasse Kaffee 1,50 Mark, Kuchen auch 1 Mark, da gibt's auch Waschmaschine und Dusche für 1 Mark. Das kann ich Ihnen empfehlen. Montags ist geschlossen, sonst jeden Abend von 18-23 Uhr.“

Der Antiquar bittet mich, auf seinen Beutel aufzupassen und geht in den Vorraum. Peter kommt zurück, er hat einen beigen Parka an, gefüttert mit Kunstpelz, trägt um den Hals einen schönen Wollschal und unterm Arm ein paar lange Unterhosen. „Das hab ich ergattert“, er wirkt zufrieden. „Schön, der Schal“, sage ich und er fragt sofort: „Willste den haben? Ich brauch ihn nich, wirklich, du kannst den haben!“ Ich habe Mühe, ihn vom Schenken abzuhalten. Die zahnlose Frau kommt in Begleitung des Paares vom Nebentisch zurück. Alle schleppen prall gefüllte große Taschen. „War wieder mal nischt dabei“, sagt die Zahnlose und bugsiert die Tasche unter ihren Stuhl. Das Paar sagt: „Na, es ging“, und „man nimmt, was man kriegen kann“ und verstaut dann seine Beute. Die Zahnlose steckt sich eine Zigarette an und sagt zum Paar: „Na, ihr beede, ihr seid wohl wie die Tauben, wat?“ Der Mann mit den Tränensäcken brummt: „Eine Scheidung ist genug“, dann legt er seine Pranke auf den Scheitel der bleichen Frau und lächelt kurz. Die Zahnlose bleibt ungerührt: „Ich habe mir immer jesacht, zu wat brauche icke 'nen Mann, mir reicht mein Sohn. Ich bin nämlich Mutter! Aber mir hamse meinen Sohn jeklaut, weil ick keene Arbeit mehr hatte.“ Die bleiche Frau bemerkt stolz: „Morgen geh ich wieder zur Arbeit, in mein Museum, ich freu mich schon ...“ Und er fügt hinzu: „Vielleicht wird sie ja übernommen, wenn man zufrieden mit ihr ist.“ Die Mutter macht ein desinteressiertes Gesicht, fragt aber dann spitz: „Wat machste denn da, in dein Dingsda?“ und die Bleiche antwortet, unvermindert stolz: „Sauber mach ich, wischen tu ich, abstauben und die Vitrinen putzen.“ Die Mutter sagt herablassend: „Ach so“ und „ick könnte gar nich arbeiten, du siehst det ja, ick habe keene Zähne mehr und selbst wenn ick Zähne hätte, ick wüßte gar nich, wo mein Sohn in der Zeit bleiben sollte. Ick muß erst mal mein Leben in Ordnung bringen. Vorhin hab ick ein Herrenhemd jefunden, det wäre wat jewesen für meinen Sohn, aber ick hätt's kleener machen müssen. Ick könnte mir totärjern, die Penner ham mir meine Nähmaschine jeklaut, allet. Als ick in die Wohnung einjezogen bin, hatte ick meinen 12-Türenhochschrank, Kinderzimmer. Allet meine Sachen. Allet wurde mir jeklaut, sogar meine Kochtöppe. Mein Bad is kaputt, alles is kaputt oder jeklaut. Nu sitze ick uff dem letzten Sofa rum und det is ooch halb abjebrannt.“ Die Bleiche ist voller Mitgefühl und sagt: „Du, weißte was, Du kannst bei uns baden, Nähmaschine ist auch da, so 'ne alte zum Treten, wie isses denn mit morgen um zehn?“ Die Mutter bläst den Rauch steil in die Luft und sagt: „Morgen kann ick nich, ick könnte Donnerstag.“ Die Bleiche ist es zufrieden: „Gut, Donnerstag um zehne, auf der U-Bahn Zossener Straße, da holen wir dich ab.“ „Halb zwölf, ick schlafe lange, weißte“, sagt die Mutter und das Paar nickt ergeben.

Der Antiquar kommt mit leeren Händen zurück, zusammen mit der schwerhörigen alten Frau, die eine grasgrüne Strickjacke gefunden und gleich angezogen hat. Er nimmt seinen Beutel und verabschiedet sich: „Bis zum nächsten Montag also, ach, und könnten Sie mir eine Kopie machen, von dem Vorsatzblatt und den ersten paar Seiten ihrer Sade-Ausgabe, können Sie die Montag mitbringen? Das würde mich sehr freuen.“ Peter erzählt dem Blinden, daß er immer diese Schmerzen in den Füßen hat, seit er sich die Zehen abgefroren hat, der Blinde aber ist eingenickt, man sieht die geschlossenen Augen kaum durch die dunkel getönten Brillengläser. Ich bitte Peter, mir ein bißchen von sich zu erzählen, und er beginnt sofort, ohne Umschweife und ohne groß nachzudenken mit leiser Stimme und bewegtem Mienenspiel: „Ach, weißte, ich hab alles mögliche gemacht, war Kohlenschlepper, mit der Kiepe auf dem Rücken Treppe rauf, Treppe runter, hab auf dem Bau gearbeitet und in Abrißhäusern, weißte, das war ja damals so, daß mein Vater kein Geld hatte, uns Kinder was lernen zu lassen. Mein Vater war Eisenbahner. Lokführer. Neun Köpfe waren wir zu Hause. Wir Kinder, Vater, Mutter und der Opa mitgerechnet und alle auf einer Stube und alle hatten wir Hunger, ständig wollten wir essen, und nichts war da. Das war ein hartes Leben. Kartoffeln gab's mit Stippe, ja, und das war Sonntags! Mein Vater hatte 50 Mark die Woche Lohn damals, aber die warn im Nu weg.

1950, da war für mich die Schule zu Ende, da mußte ich arbeiten gehn, geboren bin ich 36. Ja, Hilfsarbeiter, schwere Arbeit, da war nichts mit Lehre. Meine anderen Geschwister sind heute fast alle tot, zu denen, die noch leben, hab ich keinen Kontakt, nee, die wollen mich nicht. Früher, da hatte eine Schwester mal 'ne Wirtschaft, aber da mußte ich immer alles selber zahlen. Bei der anderen Schwester kriegte ich in der Küche immer einen Schnaps und ein Bier und manchmal auch Essen. Verheiratet war ich auch, sieben Jahre, vorher haben wir in einer wilden Ehe zusammengelebt, so hieß das damals, ja, und zwei Mädels hatten wir. Die Frau ist tot und zu den Töchtern habe ich auch keinen Kontakt mehr. Das is alles nur wegen dem Saufen so gekommen. Ich habe ja versucht aufzuhören, war auf Entzug, alles. Da bin ich zu Karstadt und hab 'ne Flasche Schnaps gekauft, die kam damals noch auf 7,50, die hab ich ausgetrunken in einem Rutsch, dann bin ich umgefallen und hab mich auffinden lassen, als hilflose Person. So kommt man zu einem Entzug nämlich. Da kam ich nach Wittenau in die Klinik, die sind sehr gut. Da kriegste solche Pillen, die sind wie Alkohol, das mußt du dir vorstellen, daß die in deinem Kopf genau wie Alkohol sind. Na, und da hab ich sogar noch ein paar Mark am Tag für die Therapiearbeit gekriegt, die ging so: Wir mußten immer 50 Kugelschreiberminen in sone Gläser einfüllen, das war die Therapiearbeit.

Ums Gelände rum, da war ein Zaun. Was meinste, wie der ausgesehen hat, wie ein Schweizerkäse, so viele Löcher. Da wind wir alle rausgestiegen. Es war so eine Österreicherin da, eine Ärztin, die war gut. Nicht so mit Hand halten und so, wie hier, aber ganz niedlich, genau wie die Schwestern. Wir ham Ausflüge gemacht, Salate, Stullen, Sprudel mitgehabt und wie wir am Wannsee waren, kaum warn wir angekommen, da standen wir schon heimlich am Kiosk und ham einen gekippt. Meine Kumpel, die ham mir immer fleißig geholfen beim Saufen. Mit denen hab ich auch meine Wohnung versoffen. Seit '91 hab ich keine Wohnung mehr. Also '89, da is meine Schwester gestorben, bei der hatte ich gewohnt, und dann ging's mit mir abwärts. Das einzige, was ich noch tun kann, is auf den Friedhof gehen. Das mache ich auch. Manchmal steh ich an ihrem Grab und rede mit ihr, wie damals, als ich den Alkoholunfall gehabt habe, da war ich ja im Urban, wo sie mich vergessen hatten, danach bin ich ans Grab und hab ihr fünf Blumen gebracht. Ich hatte sone Schmerzen, daß ich mich hab setzen müssen, ich mach die Augen zu und da stand sie plötzlich vor mir, wie im Leben, ohne Spaß, genauso! Und was ähnliches hab ich schon mal erlebt, wie mein Vater gestorben ist. Wir hatten zu Hause sone Eisenbahn, aber groß. Das war seine, die hat er selbst gebaut gehabt, die ganzen Waggons und die Lokomotive. Und wie mein Vater gestorben ist, in der Nacht, da fuhr mit einem mal die Eisenbahn los. Wir sind alle aufgewacht und meine Mutter hat sie gleich abgestellt. Eine Stunde später fuhr sie wieder. Ganz von selbst fuhr die, mit Licht und allem. Wir waren ganz fertig, alle. Ich muß noch heute drüber nachdenken, wie das gehn kann, daß die von alleine fährt.“

Der Pfarrer verabschiedet die Leute. Wir sind fast die letzten, nur die zahnlose Mutter ist noch da und unterhält sich mit Elisabeth. Der Blinde erwacht und greift nach seinem Stock, Peter nimmt Unterhose und Schlafsack. Wir verlassen die Kirche und verabschieden uns draußen. Peter sagt: „Bis zum nächsten Montag, dann erzähl ich dir weiter.“ Und geht mit dem Blinden davon. Die zahnlose Mutter fragt: „Wo fahrt ihr denn lang?“ Und ich sage: „Richtung Flughafen Tempelhof und immer weiter nach Süden.“ „Na, da können wir ja zusammen fahren, ick muß nach Alt-Mariendorf.“ Elisabeth sagt: „Wir fahren mit dem Auto, aber wir nehmen dich mit, wenn du möchtest.“

Sie möchte und steigt, wegen unseres Hundes, etwas ängstlich ein, beruhigt sich aber gleich, als sie sieht, daß er vollkommen friedlich ist. „Weeßte, die Punks ihre Hunde, die hasse ich richtiggehend, wie die immer rumschnüffeln und betteln, nee!! Ich hatte mal 'nen Pudel, der war so lieb und brav wie eurer da.“ Wir setzen sie in Alt-Mariendorf vor ihrer Haustür ab und machen aus, daß wir ja nächste Woche wieder hier vorbeikommen, sie abzuholen. „Dritte Etage“, ruft sie und nennt ihren Namen, winkt und verschwindet durch die gläserne Haustür mit ihrem schweren Beutel.