Die Sieger machen schon in die Hosen

Heute nacht endet die britische Herrschaft in Hongkong. Bei den Feiern zur Übergabe an China bleibt von Babys und Karaokesängern bis zu Tauben und Briefmarkensammlern niemand verschont  ■ Aus Hongkong Sven Hansen

„Auf die Plätze, fertig, los!“ Nummer 503 sieht sich verdutzt um. 504 fängt an zu schreien. 505 sieht Mutter 505 mit großen Augen fragend an. 506 plumpst vornüber. 507 krabbelt sabbernd einem roten Ball hinterher. 508 lauscht gebannt dem Rascheln einer Tüte Salzstangen in Mutters Hand, die auch von 509 interessiert beäugt wird.

1997 Hongkonger Babys im Alter von neun bis 18 Monaten nehmen an einem dreitägigen Wettkrabbeln zur Vereinigung mit China teil. „Das ist die einzige festliche Veranstaltung für Hongkongs jüngste Bürger im Rahmen der Übergabefeiern 1997“, behaupten die Veranstalter. Hinter dem Krabbelwettbewerb steckt ein Verlag für Elternzeitschriften und der hat Produzenten von Wegwerfwindeln, Babykost, Kinderkleidung und Spielzeug sowie eine Bank, die Ausbildungskredite anbietet, als Sponsoren geworben. Sie verkaufen neben der Miniarena ihre Produkte und drücken den Eltern Werbegeschenke und Prospekte in die Hand.

Bevor die Säuglinge auf die bunten 12,5 Meter langen Gummibahnen gelassen werden, müssen die Eltern umgerechnet vier Mark an eine Kinderkrebsstiftung spenden. „Wir hatten über 3.000 Bewerbungen“, sagt Bonnie Choi vom veranstaltenden Verlag. Ehrengäste sind Sun Nan Sheng, Chef der Propagandaabteilung der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua, sowie deren Hongkonger Chefredakteur. Xinhua ist bis zum 30. Juni die offizielle Vertretung Chinas in der britischen Kolonie.

Die Eltern und Säuglinge werden in einheitliche T-Shirts mit Werbeaufdrucken der Sponsoren gesteckt und bekommen einen bunten Aufkleber mit der Startnummer. Die zehn Bahnen sind von zwei Tribünen und einer lärmenden Menschenmenge umringt. Am Ende der Kolonialzeit ist die elterliche Rollenverteilung traditionell: Während die Mütter mit allerlei Tricks versuchen, ihre Kinder zum Krabbeln zu animieren, stehen die Männer mit der Videokamera hinterm Ziel. Knapp zwei Minuten nach dem Startsignal krabbelt 507 über die Ziellinie. 504 hat aufgegeben und wird von der Mutter getröstet. 508 und 509 sitzen zum zweitenmal zusammen vor der raschelnden Salzstangentüte. 506 krabbelt gerade zurück. 503 liegt auf dem Bauch. Und 505 hat zwei Meter vor dem Ziel die Lust verloren.

„Es macht einfach Spaß“, meint die 28jährige Mutter Ann Chiu, die ihrem fassungslosen Baby das Werbe-T-Shirt mit der Startnummer 508 über den Kopf zieht. „Die bisherige Bestzeit liegt bei 13 Sekunden“, so Veranstalterin Choi. Das schnellste Baby gewinnt für das erste Jahr unter chinesischer Hoheit Wegwerfwindeln.

Bereits seit Tagen ist Hongkong geschmückt. Riesige Lichterketten an den Hochhäusern am Hafen zeigen die Bauhinia-Blüte — Hongkongs neues Emblem — den weißen Delphin — das Übergabemaskottchen — und immer wieder die magische Zahl 1997. „Eure Zukunft ist unsere Zukunft“ verkündet ein Schild an der Hongkong- und Shanghai-Bank. Am Samstag wurde in Kowloon der mit 3,3 Kilometern längste Leuchtdrachen der Welt eingeschaltet.

Am 1. Juli sollen 10.000 Tauben aus ganz China von Hongkong aus in ihre Heimatorte zurückfliegen. Es wird eine Art Karnevalsumzug geben und abends mit zwei Millionen Menschen das größte Massenkaraoke der Welt.

Seit Wochen stehen Sportturniere, Musikkonzerte, Straßenfeste, Bankette und Empfänge im Zeichen der Übergabe. Geschäftsleute verkaufen spezielle „Handover-Editionen“, oft künstlich limitiert mit Echtheitszertifikat. Es gibt spezielle Telefonkarten, Briefmarken, Bier- und Weinflaschen, Münzen, Uhren und jede Menge T-Shirts. Auch wurden eigens nutzlose Kreationen geschaffen wie Dosen mit kolonialer Luft. Bei der Bevölkerung stoßen die Souvenirs auf rege Nachfrage. Vor einer Woche verkaufte die U-Bahn- Gesellschaft innerhalb eines Tages eine Million Fahrkarten mit Sonderaufdruck. Stundenlang mußte man dafür anstehen.