„Vom Judenlöffel eß' ich nicht“

■ Mit der Wehrmachtsausstellung gehen auch die offenen Gesprächsrunden in der Kirche Unser Lieben Frauen zu Ende. Dort wurde viel geredet, aber auch gelitten

Sonst klingt das immer so platt: „Vor einem Jahr habe ich den Briefwechsel meiner Eltern aus dem Zweiten Weltkrieg gelesen. Erst da habe ich erfahren, wie traurig mein Vater war, nicht mit den deutschen Männern aufs Feld ziehen zu können. Plötzlich war die Geschichte so greifbar. Das hatte etwas mit mir zu tun. Ich dachte immer, ich sei in einem antifaschisti-schen Haus großgeworden. Meine eigenen Eltern!“

So wie sie das sagt, ihre Worte wählt, immer wieder innehält und nach angemesseneren Begriffen sucht, glaubt man der Frau mit den kurzen Haaren, den Jeans und den Ledersandalen. Man glaubt ihrer Betroffenheit, ihrem ernsthaften Bemühen, im Jahre 1997 noch Antworten auf Fragen zu finden, die sie sich in ihrer Kindheit nie gestellt hat – nach dem „Faschismus in mir“, wie sie es ausdrückt.

Sie ist eine der Jüngeren hier – obwohl „hier“der Konfirmandensaal der Kirche Unser Lieber Frauen ist. Während der Zeit der Wehrmachtsausstellung, die heute abend zu Ende geht, luden die Moderatoren Jürgen Bartholdi, Armin Stolle und Heide Marie Voigt zweimal in der Woche zum „Öffentlichen Rundgespräch“. Hier sollte nicht nur über die Ausstellung diskutiert und gestritten werden, sondern auch über Lebenswege, verpaßte Chancen und die Welt von heute.

Doch mehr noch als gestritten wurde vielleicht gelitten. Vielen sieht man die Anspannung an. Etwa jeder Dritte ist zu alt für die „Gnade der späten Geburt“. Es fällt schwer, die Erinnerung aufleben zu lassen. Ein alter Mann, 76 Jahre alt, seiner Stimme kaum mehr mächtig, setzt mehrmals an, seine Erlebnisse bei dem Besuch eines russischen Kriegsgefangenenlagers in Fallingbostel wiederaufleben zu lassen. Immer wieder versagt ihm die Stimme. Schließlich erzählt er eine aus heutiger Sicht und erst recht mit Blick auf die Bilder der Ausstellung wenig spektakuläre Geschichte: wie er Steckrüben ins Lager brachte, und nur, wer noch laufen konnte, etwas zu essen bekam.

Ein anderer, braungebrannt mit einem langen grauen Bart, setzt der Wehrmachtsausstellung seine eigene Holzkiste mit Bildern aus der nördlichen Ukraine entgegen: als Befreier vom Stalinismus seien sie dort empfangen worden, mit offenen Armen begrüßt. Nie sei er auf die Idee gekommen, die Menschen dort schlecht zu behandeln. „Hätte ich gewußt, daß sie Juden sind, wäre ich noch netter zu ihnen gewesen.“

Und auch der Part, den man als junger Mensch so haßt, bleibt nicht aus: Die Mitteilung, nicht jeder habe „Mein Kampf“gelesen; das System sei so raffiniert gewesen, „daß man gar nicht wußte, wie verbrecherisch diese Leute waren.“

Da platzte – auch das war wohl unvermeidbar – einer selbsternannten Faschismusforscherin der dritten Generation der Kragen. „Anstatt zu hören, wie nett Sie alle zu den Juden waren, fände ich es vielversprechender zu hören, an welchem Punkt Sie vielleicht die Kurve hätten kriegen können“, provozierte sie die Zeitzeugen.

Doch anstatt beleidigt zu sein, gaben die sich sichtlich Mühe. Und das sind vielleicht auch die wenigen Momente, in denen man zu verstehen anfängt. Wenn es nicht um mordende Soldaten geht, sondern um die kleinen Szenen. Die, an denen man ablesen kann, wie Diskriminierung und Fremdenhaß sich in den Alltag einschleichen und man es kaum bemerkt. Wenn einem unweigerlich endlich einmal auffällt, wie aktuell das ist.

Ein älterer Herr, der in der Reichskristallnacht acht Jahre alt war, lieferte eine lebendige Beschreibung. Jeden Morgen sei er in seiner Jungvolk-Uniform von dem Reihenhaus der Eltern in die Stadt marschiert. Dort standen sie: etwa 30 jüdische Waisenkinder, die zurückwichen, wenn sie ihn sahen, viel mehr Platz machten, als er gebraucht hätte. Als „völlig normal“habe er das empfunden. „Erst nach dem Krieg habe ich ihre großen verängstigten Augen gesehen.“Als die Mutter zu Hause die neuen Löffel auf den Tisch legte, das Geschenk einer jüdischen Familie, die fliehen mußten, sagte er: „Von den Judenlöffeln esse ich nicht.“Prompt kassierte er eine Ohrfeige.

Er schildert es so, wie es war – und faßt es selber nicht. „Fragen Sie mich nicht, wo ich das herhatte“, sagt er, „ich wurde offenbar an meiner Familie vorbei manipuliert.“Nach dem Krieg habe er sich fast zwanghaft seine Judenfeindlichkeit abgewöhnen müssen. „Und ich habe dagestanden und gedacht, du tickst nicht richtig.“

Natürlich endete die Debatte mit den immer gleichen Fragen, die immer unbeantwortet bleiben. Würde man heute anders handeln oder in einer extremen Situation wieder genau die gleichen Verhaltensweisen an den Tag legen? Wie leistet man Widerstand? Armin Stolle zog Parallelen – dazu, sich heute mit einem Plakat gegen drohende Abschiebungen vor das Rathaus zu stellen oder sich vor den Castor zu setzen. Und er war es wohl auch, der den denkwürdigsten Gedanken einbrachte: Ob das enorm große Interesse an der Wehrmachtsausstellung nicht auch schon wieder etwas mit dem Verdrängen der Gegenwart zu tun habe. jago