Er ist ja keine Siebzehn mehr

Die Hosen müssen runter: Kann Tennisprofi Boris Becker im heutigen Viertelfinale von Wimbledon tatsächlich ein letztes Mal Gras fressen?  ■ Aus London Albert Hefele

Das alles so einfach ist, hätte sich auch der dreifache Wimbledon-Champion Boris Franz Becker nicht träumen lassen: „Ich spiele ziemlich gut, aber daß es so schnell geht, überrascht mich.“ Gegen Gorriz, gegen Johansson, gegen Petchey, gegen Rios – kein Satzverlust. Alle glatt in drei problemlosen Sätzen besiegt. Natürlich war die Auslosung nicht unglücklich, natürlich waren die bisherigen Gegner – mit Ausnahme des Sandplatzspezialisten Marcelo Rios – keine ganz fetten Brocken. Natürlich muß man auch solche Spiele erst einmal gewinnen.

Boris Becker (29) hat da seine Erfahrungen, mit dem Problem der ersten Runde, mit dem Unterschätzen des Gegners. Dieses Jahr nicht. Dieses Jahr wirkt der Wimbledon-Sieger von '85, '86 und '89 sehr locker, wenn es die Umstände erlauben, aber sehr konzentriert, wenn es das Spiel erfordert. Alles unter Kontrolle.

Es ist sogar noch genügend Zeit, sich um den Nachwuchs zu kümmern. Nein, diesmal nicht Noah- Gabriel, das neue Kind heißt Nicolas Kiefer und hat schon einen Grunge-Bart. Es ist 20 und liefert in Wimbledon eine beeindruckende Vorstellung. Becker sagt: „Er ist ein Typ wie Andre Agassi, und er kann auch so gut werden. Ich rede jeden Tag mit ihm, und er geht raus und schlägt die ganze Welt.“ Eine noch etwas beschönigende Darstellung, die unter der Rubrik „stolzer Vater über seinen Nachwuchs“ abzulegen ist.

Momentan besteht die ganze Welt noch in der Hauptsache aus dem Ukrainer Andrej Medwedew und dem Russen Jewgenj Kafelnikow. Immerhin die Nummer drei der Welt und am Mittwoch relativ klar besiegt vom jungen Becker – äh ... Kiefer. Von einem BBC-Kollegen in ein schönes Bild gegossen: „Er ist ein banger. Er hat ihn überrollt, wie die deutschen 1941 die Russen.“ Die Engländer lieben es nun mal drastisch.

Tatsache ist, daß Kiefer mit einem Sieg heute gegen den schlagbaren Todd Woodbridge als Ungesetzter auf einmal im Halbfinale eines Grand-Slam-Turnieres auftauchen würde. Und mit ein bißchen Glück oder Pech dort dem Förderer gegenüberstehen, „der mir sagt, wie ich gegen die Leute spielen soll“. Eine dramaturgisch wunderbare Vorstellung: Zerstört der Schüler die Hoffnungen seines Lehrers? Paul Newman und Tom Cruise – „Die Farbe des Geldes“.

Anders formuliert: Nährt Becker eine Schlange an seinem Busen? Zu früh gefragt. Soweit ist es noch nicht. Vorerst hat der junge Nicolas (sprich bitte: Nicola) beim Publikum aber schon mal einen dicken Stein im Brett. Fast wie einst der ganz junge ... wer?

Becker lieben die Engländer, weil er Wimbledon liebt. Und wegen seiner großen Kämpfe, vor allem in den Achtzigern, vor allem gegen Stefan Edberg. In denen er sich aufgeopfert, in denen er wie um sein Leben gespielt hat. Anders gewinnt man Wimbledon nicht, es sei denn, man ist ein so begnadeter Spieler wie Pete Sampras. Gegen den hat Becker sein letztes Finale in Wimbledon verloren. Der wartet heute im Viertelfinale, wenn ihn nicht vorher der Blitz erschlagen haben sollte. Gegen den Weltranglistenersten hat Becker im Normalfall keine Chance. Warum? Sampras ist einfach zu gut. Er kann alles immer eine Idee besser als seine Kontrahenten – wenn es sein muß. Sein Aufschlag ist hart, zuverlässig und plaziert, seine Grundschläge sind mehr als solide, seine Volleys eine Augenweide und seine Raumaufteilung ist genial.

So einen kann man nicht mit seinen eigenen Waffen schlagen, so einen muß man überrollen. Mit Wucht, mit Willen, mit ständigem, unter keinen Umständen nachlassendem Druck; mit der Bereitschaft Gras zu fressen. Früher hat Becker oft so gespielt.

Der heutige Boris Franz scheint manchmal seiner Erscheinung auf dem Platz mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dem Ball. Kontrollierte Mimik; erwachsenes Schreiten: Ich bin schließlich keine Siebzehn mehr. Versucht so etwas wie Würde zu verströmen, wenn er seine Schweißbänder wie Reliquien huldvoll zwischen quiekende Fanhaufen wirft. Ist das gut oder schlecht?

Bisher konnte er es sich jedenfalls leisten. Von heute an wird das nicht mehr so sein. Keine Zeit für Selbstdarstellungen, Hosen runter, wie man so sagt. Zeit für die letzten Fragen in der Karriere Beckers. Kann er auf dem Platz noch einmal ganz er selbst sein? Kann Boris Becker heute nachmittag noch einmal Gras fressen?