■ Die Berliner Bauarbeiter streiken gegen die Globalisierung
: Ehre oder Vernunft

Ehre zu verteidigen ist mannhaft und riskant zugleich. Wenn in der maroden Berlin-brandenburgischen Baubranche gestreikt wird, geht es um die Verteidigung eines Schutzes. Also um Ehre.

Immerhin sieht der neue Bundesrahmentarifvertrag auch für Arbeiter in kleinen und mittleren Betrieben noch ein abgespecktes 13. Monatsgehalt vor, ebenso, daß ab dem vierten Krankheitstag der volle Lohn gezahlt wird und der Lohn um magere 1,3 Prozent steigen wird. Soweit die Rechte der westdeutschen Bauarbeiter.

Bislang partizipierten die Berliner von diesem Regelwerk. Ihnen galt der Bundesrahmentarifvertrag als tarifpolitischer Schutzwall im Wende-Bauboom. Der Aufschwung ist zu Ende, die Arbeitgeber der Fachgemeinschaft Bau sind aus ihrem Spitzenverband ausgestiegen. Nach ihrem Willen haben sich Berliner Bauarbeiter daran zu gewöhnen, daß sie nicht nur geographisch im Osten leben. Sie sollen auch zu Ostbedingungen arbeiten. Dort spielten Arbeitgeber tarifpolitisch hemmungslos Wildost. Sie machen ihre Löhne selbst, auf ostdeutsch: niedriger. Aber bitte ohne Garantie. Jäh haben sie die tarifpolitische Mauer, die jahrzehntelang von beiden Verhandlungsparteien aufgebaut wurde, niedergerissen. Die Quittung erhalten sie seit Montag: Streik. Der erste seit 19 Jahren. Die Bauarbeiter wissen, das ist ein riskantes Unterfangen. Sie wissen, daß viele hundert Betriebe jedes Jahr in Konkurs gehen. Sie wissen, daß ihr Streik gerade die Kleinen in Schwierigkeiten bringt. Sie wissen, daß die regionale Arbeitslosigkeit der Branche mit 30 Prozent noch nicht den Höchststand erreicht hat. Sie kennen die Dumpinglöhne und leiden unter den Gesetzen der weltweit flottierenden Arbeitskraft.

Die Baubranche wird als erste von der Globalisierung aufgefressen. Auch wenn die deutsche Bauwirtschaft in zehn Jahren kaum eine Rolle mehr spielen wird, muß das mittelfristige Ziel sein, den Kostendruck von den Unternehmen zu nehmen. Dazu sind die Bauarbeiter insgeheim bereit. Über weitreichende Öffnungsklauseln wollen sie verhandeln. Dies wäre ein erster Schritt, die Branche an die veränderte Lage anzupassen und eine politische Eskalation zu vermeiden. Das ist für die Arbeitnehmer keine Frage der Ehre mehr, sondern eine der Vernunft.

Vernünftig wäre es auch, die Bauwirtschaft auf den modernsten technologischen Stand zu bringen. Dabei sollten Arbeitgeber die Verpflichtung verspüren, dies sozial verträglich zu gestalten. Zugegeben, dies wiederum wäre eine Frage der Tugend. Annette Rogalla