■ Gestern wurde im US-Bundesstaat Maryland Flint Gregory Hunt hingerichtet. Seit Anfang des Jahres wird im Rekordtempo exekutiert. Verurteilte haben immer weniger Chancen, Zeit und Geld, Beweise für ihre Unschuld vorzubringen
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Gestern wurde im US-Bundesstaat Maryland Flint Gregory Hunt hingerichtet. Seit Anfang des Jahres wird im Rekordtempo exekutiert. Verurteilte haben immer weniger Chancen, Zeit und Geld, Beweise für ihre Unschuld vorzubringen

Todesstrafe: Rache als Schmerzmittel

Das Bedürfnis ist ein menschliches, und es überkommt John Benn jeden Nachmittag: Er muß ein Nickerchen halten. Das wäre dem 72jährigen ohne weiteres zu gönnen, würde er nicht ausgerechnet bei der Arbeit im Gerichtssaal eindösen. John Benn ist Strafverteidiger in Houston, Texas, und schläft auch dann, wenn es um das Leben seiner Mandanten geht. Einer von ihnen, George McFarland, wurde 1992 wegen Mordes an einem Ladenbesitzer zum Tode verurteilt – auf der Grundlage zweier höchst fragwürdiger Zeugenaussagen, die sein Anwalt im wahrsten Sinne des Wortes verpennt hatte.

Was die US-Zeitschrift The Nation das „Sleeping Lawyer Syndrome“ nennt, ist nach herrschender Meinung kein Revisionsgrund. Zwar garantiert die US-Verfassung jedem Angeklagten einen Rechtsbeistand, doch nach den Worten des Richters im Prozeß gegen McFarland „steht nirgendwo, daß der auch wach sein muß“. Der Texas Court of Criminal Appeals, eine der Stationen im Berufungs- und Revisionsverfahren, bestätigte das Todesurteil im Februar 1996, und so steht zu befürchten, daß der Name McFarland bald auf der Liste der Exekutierten im Bundesstaat Texas auftauchen wird.

Dessen Justizbehörden haben 1997 eine in der US-Geschichte beispiellose Hinrichtungswelle in Gang gesetzt. Wurden 1996 „nur“ drei Urteile vollstreckt, waren es in den ersten sechs Monaten dieses Jahres bereits 24. Dem gingen massive prozeßrechtliche Einschränkungen voraus: Die Instanzenwege vor den texanischen und den Bundesgerichten, die früher nacheinander beschritten wurden, müssen nun gleichzeitig durchlaufen werden – und zwar unter Einhaltung eng gesetzter Antragsfristen.

„Beschleunigung“ heißt das Schlagwort, mit dem in den USA derzeit Todesstrafenpolitik gemacht wird. Acht Jahre verbringt ein Todeskandidat durchschnittlich im Gefängnis, bevor das Urteil vollstreckt, aufgehoben oder umgewandelt wird. Viel zu lange, finden politisch ambitionierte Staatsanwälte wie Michael Bowers in Mississippi. „Aufgeschobene Gerechtigkeit ist aufgehobene Gerechtigkeit“, skandiert der Jurist. Und die Wählerschaft, um die er werben muß, nickt.

Wortwahl und Argumentationslogik erinnern dabei an die bundesdeutsche Diskussion um das Asylrecht Ende der achtziger Jahre. Der Aktenstau vor den Berufungs- und Revisionsgerichten wird mit „mißbräuchlichen“ oder „offensichtlich unbegründeten“ Einsprüchen der Verurteilten und ihrer Anwälte erklärt, die Beschneidung des Instanzenweges mit dem „Handlungsbedarf der Justiz“ begründet.

Nur geht es eben nicht um Aufnahmeanträge von Flüchtlingen, sondern um Todesurteile, die häufig auf Basis einer höchst fragwürdigen Beweislage und nach massiven verfahrensrechtlichen Fehlern gefällt wurden. Fehler, die einem engagierten und versierten Strafverteidiger sofort auffallen würden. Nicht aber den zahlreichen jungen oder in Mordprozessen völlig unerfahrenen Juristen, die als Pflichtverteidiger zu Niedrigsthonoraren bestellt werden, die kaum zu einer angemessenen Vorbereitung motivieren. Die aber ist im US-Justizsystem um so nötiger, als dort die Staatsanwälte im Gegensatz zu ihren deutschen Kollegen nicht verpflichtet sind, nach entlastendem Beweismaterial zu suchen. Das obliegt der Verteidigung – und ist entsprechend teuer. Die Insassen der Todestrakte in den USA, ob schuldig oder unschuldig, teilen deshalb vor allem eine Eigenschaft: Sie sind arm.

Vor den Berufungs- und Revisionsinstanzen die oft krassen Verfahrensfehler und Unterlassungen aus dem Mordprozeß auszubügeln ist äußerst schwierig. Zumal sogar neue Indizien für die Unschuld eines Verurteilten ignoriert werden können, wenn der Anwalt entsprechende Anträge nicht fristgerecht eingereicht hat. So geschehen im Fall von Roger Coleman, der 1981 wegen Mordes an seiner Schwägerin im Bundesstaat Virginia zum Tode verurteilt wurde. In den folgenden zehn Jahren verdichteten sich die Hinweise auf einen Justizirrtum. Bis zuletzt wies jede Instanz, auch der Oberste Gerichtshof der USA, Colemans Einsprüche mit der Begründung zurück, sie hätten früher vorgebracht werden müssen. Roger Coleman wurde am 20. Mai 1992 exekutiert.

Glück hatte dagegen Rolando Cruz im Bundesstaat Illinois, der 1995 nach zehn Jahren Todestrakt entlassen wurde, nachdem sich ein Rechtsprofessor in Chicago mit seinen Studenten des Falles angenommen hatten. DNA-Tests bewiesen, daß er nichts mit der Vergewaltigung und dem Mord an einem 10jährigen Mädchen zu tun hatte, für die er 1985 verurteilt worden war. Sieben Polizisten und Staatsanwälte sind inzwischen der Falschaussage angeklagt: Sie hatten eine Vernehmungsaussage, in der sich Cruz selbst belastet haben soll, erfunden. Auch im Fall des in Pennsylvania zum Tode verurteilten Schwarzen Mumia Abu-Jamal wird inzwischen gegen einen Polizisten ermittelt, der die Hauptbelastungszeugin zu ihrer Aussage gezwungen haben soll.

Seit Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 sind mindestens 70 Verurteilte freigelassen worden, nachdem sich ihre Unschuld herausgestellt hatte. Allein in Illinois kamen in den letzten zehn Jahren neun Insassen des Todestrakts wieder auf freien Fuß. Die American Bar Association, die US-Anwaltskammer, hat deshalb in Zusammenarbeit mit der New York Times und der Chicago Tribune einen Stopp aller Hinrichtungen in Illinois sowie ein Todesstrafen- Moratorium gefordert. „Ein weitverbreitetes Muster von Fehlern und Mißbrauch hat bislang mindestens neun Unschuldige in den Todestrakt gebracht“, heißt es in der Erklärung. „Aber wie viele der 165 Männer und Frauen im Todesstrakt von Illinois sind ebenfalls Opfer von Fehlurteilen?“ Bislang gibt es keine politischen Reaktionen auf diesen Appell. Andrea Böhm