Zwischen den Rillen
: Zum Tanz, zum Tee

■ Roni Size und Boymerang machen Drum'n'Bass auf Langspielplattenlänge

Langsam merkt man es auch in Drum'n'Bass-Kreisen: Immer nur Maxis sind auf die Dauer einfach zu mickrig. Ein richtig langes Album hingegen – und unter einer Spielzeit von um 70 Minuten läuft hier gar nichts – macht da schon mehr her. Das muß man verstehen. Das war auch schon immer so. Mit Singles resp. Maxis wird eine Musike auf dem Markt eingeführt, später hagelt es ohne Ende Compilations, die all die Singles resp. Maxis für Späteinsteiger kundenfreundlich zusammenfassen. Und dann endlich wird es den Künstlern zu bunt und Zeit für Longplayer aus Autorenhand. Die Gründe für Drum'n'Bass- Produzenten sind offensichtlich. Eine Maxi verfügt nur über zwei Seiten, ein Longplayer allerdings bietet Raum für sorgfältig durchkomponierten Facettenreichtum; im Club andauernd von irgendeinem DJ einfach drunter- und weggemischt zu werden und bloß ein weiterer kleiner Szeneheld zu sein, rührt mit der Zeit am Künstlerego; ein Longplayer ist naturgemäß bedienungsfreundlicher, öffentlichkeitswirksamer – weil: wird nicht nur in Spezialistenblättern besprochen, sondern zum Beispiel in der taz. Wer kauft sich schon für den Hausgebrauch Maxis, die man etwa alle sieben Minuten umdrehen muß? Eben, soll sagen: Die Zeit für die ersten non- compiled, von vorn bis hinten als Album durchkonzipierten Drum'n'Bass-Alben ist gekommen. Und das trifft sich gut, sind doch gerade rechtzeitig Boymerangs-Debüt „Balance Of The Force“ und „New Forms“ von Reprazent erschienen. Und dafür, daß die besagten Alben nicht wie die allerersten Platten dieser Art sang- und klanglos untergehen (4 Hero) oder nur dank größten PR-Aufwands wahrgenommen werden (Goldie), stehen die Zeichen mindestens gut.

Stichtwort Vermarktung. Denn wie bei Techno stellt sich bei Drum'n'Bass das gleiche Problem: Wie schreibt man über bzw. vermarktet man Leute, von denen man nichts anderes weiß, als daß sie den ganzen Tag über ihren Maschinen hängen und Knöpfchen drehen? Aber Boymerang macht es einem da einfacher.

Denn Boymerang a.k.a. Graham Sutton war, na hoppla, noch 1993 Teil einer Indie- Rock-Combo namens Bark Psychosis. Von deren Existenz wußte zwar bislang niemand, doch fehlen darf dieser Hinweis in keinem Artikel. Das ist Musikjournalismus, die große Kunst, mit komplett überflüssigem Wissen zu wuchern. Denn immerhin ist 1993 vier Jahre her, und wo auf „Balance Of The Force“ Indie-Rock-Wurzeln zu hören sind, weiß kein Mensch. Oder ist gerade das die Besonderheit? Am besten: File under Legendenbildung.

Doch davon einmal abgesehen: „Balance Of The Force“ schüttelt das Parkett. Boymerang läßt die Beats feste rappeln, schichtet freundliche Synthieflächen drüber, schickt zum Kontrast fiese Geräusche durch die Kanäle, legt gemeine Bässe drunter, zieht die Bremse, gibt dann wieder Gas und so weiter. Verwirrend ist das bestimmt, klingt aber nicht so sehr nach Luftangriff und Hubschraubereinsatz wie die überaus trostlosen Platten seiner Kollegen von No-U Turn, sondern eher gemäßigt düster, sagen wir mal mit Blickrichtung Metalheadz – der Sound also, zu dem man mitunter gern mal eine Tasse Tee verschüttet. Jedenfalls hat der Spaß bis zur Fertigstellung ganze 18 Monate gebraucht, was nicht nur für eine Tanzplatte eine stolze Dauer ist. Und jetzt, jetzt ist Boymerang der Shooting-Star der Szene. Toll.

Aber bewegen wir uns von London nach Bristol, wo Roni Size wohnt. In Bristol, das ist bekannt, klingt Drum'n' Bass ganz anders. Nämlich freundlicher, lebensbejahender und rundum sympathischer. Protagonisten der dortigen Szene sind neben Roni Size DJ Krust, DJ Die und DJ Suv, und gemeinsam sind sie das Kollektiv Reprazent, das sich seine Musik hier und da durch hübsche Vocal-Einsätze der Sängerin Onallee und MC Dynamite ergänzen läßt. Reprazent – eine Drum'n'Bass-Supergroup? Kann sein. Zitat Pressetext: „Reprazent steht für die Verbindung organischen Lebens und langsam zerfallender industrieller Welt. Eindrücke von Ausweglosigkeit, Zerstörung und urbanen Wahnsinns, versetzt mit dem Glauben an Menschlichkeit und optimistischer Hoffnung auf Individualität und Nonkonformität.“

Ob ihre Platte „New Forms“ deshalb so lang ist, man weiß es nicht. Doch 140 Minuten Drum'n'Bass aus einem Guß sind schon ein starkes Stück. Ein Statement sozusagen. Bloß wofür? Oder wogegen?

Hat man „New Forms“ jedoch einmal in den CD-Player gelegt und Start gedrückt, gibt es keinen Grund, sie nicht bis zum Schluß durchzuhören, außer man hat gute Gründe. Ein Stück schmiegt sich an das nächste, fein sind die Übergänge, delikat per Mix und sauber der Sound. Und was für die CD-1 der Doppel-CD gilt, gilt auch für die CD-2. Diese Platte ist perfekt für zu Hause und den Club, jeder Ton sitzt und paßt – super. Einwand: Aber mögen wir nicht Dinge wegen ihrer Gebrochenheit, Sprünge und konzeptuellen Risse? Nun, mal so, mal so, es kommt halt drauf an. Doch selbst Roni Size' obligates Gezwinker mit Jazz-Sounds mag hier kaum stören. Solang sicher ist: Mit Jazz hat das nichts zu tun, es hört sich nur so an. Harald Peters

Boymerang: „Balance Of The Force“ (Regal/Groove Attack); Roni Size/Reprazent – New Forms (Talkin' Loud/Motor Music)