Die Pilze des Schönen

Martin Margiela hat Pullover aus alten Socken genäht und Kleider mit Bakterien gespickt. Seine Modermode wird nun in Rotterdam ausgestellt  ■ Von Anja Seeliger

Die Fahrt mit der Straßenbahn von der Rotterdam Central Station zum Boijmans Beuningen Museum dauert keine zehn Minuten, macht dem Besucher aber schnell klar, daß Rotterdam im Krieg schrecklich gelitten haben muß. Der Teil rings um den Bahnhof ist mit verglasten Hochhaustürmen wieder aufgebaut worden. Zum Kanal hin sieht man vereinzelt schöne alte Häuser aus Backstein, mit verzierten Giebeln und Mustern. So sah das früher aus. Die Baulücken sind ausgefüllt mit modernen eckigen Gebäuden, die sich nur in der Höhe angleichen. Ohne die Unterschiede zwischen alt und neu zu verleugnen, entsteht so eine prekäre Harmonie. Schön, gerade weil sie so unsicher ist.

Durch den Museumspark spazierend, steht man plötzlich vor der riesigen Schraube von Claes Oldenburg. Sie ist so stark gebogen, daß ihre Spitze die Erde berührt. Hinter der Schraube spiegelt sich die Sonne in einem großen viereckigen Teich, und dahinter wiederum flattern auf einem Eisengestell, das an der Rückseite des Boijmans angebracht ist, 18 Kleider im Wind. Ein seltsamer Anblick.

Die Kleider sind von dem belgischen Modedesigner Martin Margiela. Im Museum dann kein Zweifel: Sie stehen tatsächlich draußen. Auf stoffbezogene Schneiderpuppen drapiert, sind sie bedenkenlos dem Wetter ausgesetzt – und den grausamen Kleiderversuchen des Mikrobiologen Dr. Ad van Egeraat. Er hat den Stoffüberzug der Puppen mit einer Nährlösung aus verschiedenen Bakterien und Pilzen beträufelt. Da die Ausstellung am 12. Juni eröffnet wurde, hatten die Bakterien inzwischen hinreichend Zeit, sich in die Kleider vorzuarbeiten. Die meisten Kleidungsstücke haben sich in ein undefinierbares Grün-Braun-Gelb verfärbt. An einigen Stellen haben die Bakterien winzige Punkte gebildet, die aussehen, als wäre das Kleidungsstück mit Vanilleraspeln besprenkelt. Ein Wollpullover scheint sich am Saum langsam in den Rock zu modern.

Margiela hat oft versucht, den Abdruck der Zeit in seinen Kleidern festzuhalten. Er hat Pullover aus alten Socken genäht, wobei die Ferse die Brust und die Ellbogen modellierte. Er hat alte Jeanshosen aufgetrennt und aus den Einzelteilen Röcke genäht. Oder aus mehreren unterschiedlich gemusterten alten Kleidern ein neues. Der Vorstellung von Mode als ewigem Neuanfang, als ewiger Jugend und Schönheit hat er den Verfall des Materials und den individuellen Abdruck des Trägers entgegengehalten. Doch dies hier ist der Tod. Es mag ja Leute geben, die glauben, wenn sie nur jedes Halbjahr einen neuen Anzug kaufen, dann müßten sie nicht sterben. Als würde die neue Hülle der Kleider auch den Körper darunter erneuern. Ihre Sterblichkeit aufzuzeigen ist vielleicht ein wenig oberlehrerhaft, aber dieser Anflug von Unmut verfliegt vor der unerwarteten Schönheit der Kleider – und der wuchernden Pilze.

Eine Puppe trägt ein sehr weites Kleid, über das ein durchsichtiges, hüftlanges Netz-T-Shirt aus Nylon gezogen ist. Das enge T-Shirt legt das Kleid scheinbar unbeabsichtigt in anmutige, leicht schräg verlaufende Falten, ohne diese flachzupressen. Das ganze Kleid ist überzogen von grünlichem Schimmel. Der Effekt ist eine griechische Statue, etwas, das so klassisch aussieht, als hätte Phidas mit Hand angelegt. In Wirklichkeit ist es nur ein Baumwollmännerunterhemd in XXXXL-Größe.

Eine andere Puppe trägt ein langes, gerades Kleid aus Shetland- Wolle. Es hat vorn einen tiefen V- Ausschnitt. Der Belag auf dem Ausschnitt, der die Kante abschließt und üblicherweise nach innen gewendet ist, wurde nicht umgebügelt, sondern steht wie eine unfertige Biese ab. Am Saum haben die Bakterien kleine Kolonien gegründet, aber sonst ist das Kleid ziemlich unversehrt. Die Handschuhe sind allerdings ein Desaster. Margiela hat sie aus zwei alten Lederhandschuhen zusammengesetzt, so daß sie bis zur Schulter reichen. Auf der Innenseite reichen sie bis zu den Achseln und schmiegen sich dann in einem Bogen an die Schulter. Sie sehen aus wie Ärmel, die versehentlich nicht angenäht wurden. Sie sind über und über besät von pelzigen Schimmelpilzen, die entgegenkommenderweise fast perfekte Kreise bilden. Die Finger der Handschuhe sind bereits zusammengewuchert, gerade eben noch erkennbar. Von Leder hätte ich eigentlich mehr Kampfgeist erwartet!

Was spielt sich eigentlich da draußen ab? Draußen am See schieben zwei Arbeiter unablässig Sand in einer Schubkarre herbei, den sie in einen Graben neben dem See schütten, wo er auf der Stelle vom Wasser verschluckt wird. Neben dem Graben liegen Rasenstücke und die ausgeschaufelte schwarze Erde. Wieviel Bakterien da wohl drin sein mögen? Dr. Egeraat hat im Ausstellungskatalog in einem ausführlichen Text über das Wesen der Bakterien geschrieben, daß auf unserer Haut Milliarden von Bakterien angesiedelt sind: „Wir müssen mit dem Wissen leben, daß wir niemals vollkommen sauber sein werden und niemals ganz allein.“

Als ich durch das Museum zurücklaufe, sehe ich eine Tafel, auf der steht: Contemporary Art – modern materials, old problems. In diesem Raum sind zehn Kunstwerke ausgestellt, die unerbittlich von der Zeit zerstört werden. Darunter ein Vlies aus Glaswolle von Piero Manzoni. Auf einer Tafel daneben ist das Problem ausführlich dargestellt: Im Lauf der Zeit ist die Glaswolle schmutzig geworden, womit sie ihre ursprüngliche luftige Leichtigkeit verloren hat. „Grund genug, sie zu reinigen, oder gehört der Dreck zum natürlichen Alterungsprozeß (Patina)?“ Ich weiß es auch nicht, aber gefühlsmäßig neige ich im Augenblick mehr zur Patina.

Draußen sind die Arbeiter verschwunden. Aus dem Wassergraben ragen inzwischen acht kleine Sandhäufchen.

Martin Margiela bis 17.August im Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam