„Wir werden ignoriert. Überall“

Bei der Konferenz „Die vergessenen Juden im Baltikum“ warben Betroffene um Anerkennung. Beim Benefizkonzert vergaß die bundesdeutsche Politprominenz, sie zu begrüßen  ■ Aus Hannover Anita Kugler

Am 4. Juli 1941 brannten in Riga die Synagogen. In der größten – sie stand in der sogenannten Moskauer Vorstadt, wo wenig später das Ghetto errichtet wurde – befanden sich etwa 300 jüdische Flüchtlinge aus Litauen. Lettische Polizisten umstellten mit Maschinengewehren die Synagoge, erschossen jeden, der aus dem brennenden Gebäude flüchten wollte. Drei Tage später meldete der Leiter der Einsatzgruppe 1a, Walter Stahlecker, stolz nach Berlin: „Alle Synagogen sind vernichtet.“ Der 4. Juli war der Auftakt zum großen Massenmorden in Lettland. Von den etwa 90.000 Juden überlebten nur zirka 1.000 Menschen.

In Lettland ist der 4. Juli seit der Unabhängigkeit 1991 offizieller „Holocaust-Gedenktag“. Alle Fahnen stehen auf Halbmast, auch wenn die meisten Letten nicht wissen, warum. Die Vernichtung der Juden, mit Hilfe lettischer Kollaborateure durchgeführt, zählt heute noch zu den verschwiegenen Themen. In Deutschland ist dies kein Tabuthema, aber ein peinliches. Erst vor kurzem beschloß der Finanzausschuß des Bundestages, die Entschädigung für baltische Juden nicht weiter zu behandeln. Sie haben bisher keinen Pfennig „humanitäre Hilfe“ für Ghetto, Konzentrationslager, Raub ihrer Vermögen, Zwangsarbeit zugunsten des Deutschen Reiches und die Ermordung ihrer Familien erhalten – und werden es auch nicht mehr.

Daß die 229 litauischen Überlebenden, die 84 in Lettland und die fünf in Estland nicht in Armut sterben, ist nur privaten deutschen Hilfsinitiativen zu verdanken, die seit Jahren Geld sammeln und es ohne Nebenkosten den KZ-Vereinigungen persönlich überbringen.

Mit diesem Skandalon der Nichtentschädigung beschäftigte sich am Wochenende ein Symposium der Buber-Rosenzweig-Stiftung in Hannover. Ihr Titel: „Die vergessenenen Juden in den baltischen Staaten“. Gekommen waren auch Alexander Bergmann, Vorsitzender der lettischen Vereinigung der jüdischen Überlebenden von Ghetto und KZ, Margers Vestermanis, Zeitzeuge und Leiter des jüdischen Museums und Dokumentationszentrums in Riga, sowie Fruma Kucinskrene, Überlebende der Massaker in Kaunaus und Vorsitzende der dortigen jüdischen Gemeinde. „Wir werden ignoriert, man will von uns nichts wissen. Nirgendwo“, sagte Alexander Bergmann, Rechtsanwalt und mit 72 Jahren das jüngste Vereinsmitglied. In Lettland seien neue Gesetze in Arbeit, die die ehemaligen lettischen SS-Leute begünstigen und die Verfolgten des Naziregimes benachteiligen. Die Überlebenden müßten schriftliche Dokumente über ihre Verfolgung einreichen.

Bei den Tätern reichen Zeugenaussagen, daß sie wirklich bei Kampfhandlungen verletzt worden sind. Für sie ist das wichtig, denn „kriegsverletzte“ SS-Soldaten erhalten nicht nur Freifahrtscheine in lettischen Eisenbahnen, sondern – im Unterschied zu den Verfolgten – auch Versorgungsrenten in Höhe von 300 Mark aus Deutschland. Bitter klingen die Vorhersagen aus den Reihen der Überlebenden: „In vier Jahren lebt von uns keiner mehr. Dann ist Deutschland das Problem los.“

„Die Nichtentschädigung der Opfer ist ein Makel in der Geschichte der BRD“, faßte der Hannoveraner Jurist Joachim Perels zusammen. Zuvor referierte er über die Amnestiebewegung und die milden Urteile für deutsche Kriegsverbrecher im Baltikum. In der frühen Bundesrepublik urteilte die Justiz, daß nur „Hitler, Himmler und Heydrich“ Täter im eigentlichen Sinne gewesen seien.

Anläßlich der Tagung hatte der Direktor des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik, Andor Izsak, im Kuppelsaal des Congreß Centrums ein großes Benefizkonzert für die Überlebenden des Rigaer Ghettos organisiert. Der lettische Staatspräsident Guntis Ulmanis schickte ein Grußtelegramm, in dem er – zum ersten Mal – „Pein“ äußerte über die lettische Kollaboration, die er allerdings nach Weißrussland und die Ukraine verlegte.

In Hannover war auch Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Sowohl sie als auch der niedersächsische Landtagspräsident Horst Milde brachten das Kunststück fertig, in ihren Eröffnungsansprachen das Wort „Entschädigung“ nicht auszusprechen. Mehr noch. Zwar begrüßten beide namentlich die anwesende Prominenz, den Landesbischof, den Kultusminister von Niedersachsen, vergaßen aber, daß auch Überlebende des Rigaer Ghettos im Publikum saßen. „Was soll die Aufregung darüber“, fragte später Alexander Bergmann, „ignoriert zu werden, sind wir doch gewöhnt.“

Eine Liste der Hilfsinitiativen kann bei der taz angefordert werden.