Zugunglück wegen eines viel zu dünnen Seils?

■ Sechs Tote bei Eisenbahnunglück in Nordhessen. Staatsanwaltschaft ermittelt

Berlin (taz) – Nach dem schweren Zugunglück in Nordhessen hat die Marburger Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung sowie Gefährdung des Bahnverkehrs aufgenommen. Bei dem Unfall am Samstag morgen gegen neun Uhr waren sechs Insassen eines Regionalexpresses ums Leben gekommen – ein 16jähriger Schüler und sein 31jähriger Lehrer aus dem Raum Gießen, zwei Jugendliche aus Berlin, eine 30jährige Frau aus Ghana sowie eine 50jährige Schwedin. 13 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Der Zug auf dem Weg von Frankfurt/Main nach Kassel war mit mehr als 250 Fahrgästen vollbesetzt gewesen.

In der Höhe von Neustadt hatte sich auf einem entgegenkommenden Güterzug die Ladung teilweise gelöst. Ein 14 Meter langes und sechs Tonnen schweres Stahlrohr schlitzte die eine Seite des doppelstöckigen Unglückswaggons auf. Bereits 200 Meter vorher hatte der aus Niedersachsen kommende Güterzug drei der Stahlrohre verloren. Sie fielen von einer Brücke und rollten den Bahndamm hinab. Hierbei war jedoch niemand zu Schaden gekommen.

Wie die Ladung verrutschen konnte, ist bislang ungeklärt. Hinweise, wonach ein gerissenes Befestigungsseil für die Tragödie verantwortlich sei, wollte Hartmut Lange, der hessische Pressesprecher der Deutschen Bahn AG, nicht bestätigen. „Ich nehme an, daß die Befestigung der Ladung den Vorschriften entsprochen hat“, so Lange zur taz. Die Vorgaben seien für jedes Transportgut ganz speziell angelegt. Möglich sei, daß sich durch eine „außergewöhnliche Erschütterung die Ladung aus der Verankerung“ gelöst habe.

Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte die Sicherungsseile aus Nylon und prüft jetzt, ob zur Befestigung der Güter veraltetes Material verwendet wurde. Verantwortlich wäre dann eine private Verladefirma in Salzgitter. „Inwieweit es der Norm entspricht, so schwere Rohre mit diesen vergleichsweise dünnen Seilen zu sichern, müssen Sachverständige klären“, sagte ein Marburger Polizeisprecher der taz. Die Staatsanwaltschaft beauftragte eine Kommission mit Experten des Eisenbahn-Bundesamtes mit der Untersuchung der Unfallursache. Offiziell will sie sich frühestens heute zum Ermittlungsstand äußern.

Bis in die Nacht zum Sonntag waren an dem Unglücksort bei Neustadt rund 200 Einsätzkräfte von Polizei, Bundesgrenzschutz und Feuerwehr im Einsatz. Aus Hubschraubern wurde umfassendes Videomaterial der beiden Züge angefertigt. Kanzleramtsminister Friedrich Bohl und Hessens Ministerpräsident Hans Eichel waren zum Unfallort geeilt, um ihr Mitgefühl zu bekundet.

Kurz vor Mitternacht wurde die Bahnstrecke wieder freigegeben. Annette Kanis