Der Friedensprozeß ist abmarschiert

■ Nach Unruhen in mehreren Städten Nordirlands werden für das Wochenende weitere Auseinandersetzungen erwartet

Newry (taz) – „Kein Waffenstillstand“, skandierten die Jugendlichen auf der Umgehungsstraße der nordirischen Stadt Newry. Sie hatten die vierspurige Autobahn mit brennenden Lastwagen blockiert. Die Autofahrer, die nicht mehr weiterkamen, drehten in Windeseile um, damit ihre Blechkisten nicht ebenfalls in der Barrikade endeten. Die britische Regierung habe ihr wahres Gesicht gezeigt, sagten die Jugendlichen. „Blair redet vom Friedensprozeß“, meinte ein etwa 16jähriger Maskierter, „und dann schickt er seine Armee, um ein katholisches Viertel zu terrorisieren.“

In allen nordirischen Katholikenvierteln kam es in der Nacht zu gestern zu Straßenschlachten, überall brannten Autos, Lastwagen und Häuser, es gab Hunderte von Verletzten. Gestorben ist bisher niemand, aber die Unruhen sind noch lange nicht zu Ende. Auslöser war die Entscheidung der britischen Regierung, einer Parade des protestantischen Oranier-Ordens am Sonntag die katholische Garvaghy Road in Portadown gewaltsam frei zu machen.

Nachts um halb vier waren die Soldaten und Polizisten gekommen und hatten die Bewohner mit Holzknüppeln von der Straße vertrieben, mehr als 150 Jeeps und Schützenpanzerwagen riegelten die Gehwege auf beiden Seiten hermetisch ab. Die Bewohner waren Gefangene in ihren eigenen Häusern, bis die Parade vorbei war. Dann begann die Schlacht.

Im benachbarten Lurgan hielten zehn maskierte IRA-Männer die Eisenbahn von Belfast nach Dublin auf, schickten die Passagiere weg und zündeten den Zug an. In Belfast explodierte eine Bombe neben einem Polizeirevier. Es wurde auch geschossen: In Armagh kam eine Polizeistreife unter Beschuß, in Coalisland erlitt eine Polizistin Kopfverletzungen durch eine Gewehrsalve, in Nordbelfast gab es abends einen minutenlangen Schußwechsel, auf der Lower Ormeau Road, einem katholischen Viertel in Südbelfast, gab jemand fünf Schüsse auf einen Kontrollpunkt der Polizei ab.

Auf dieses Viertel an der Ormeau Road sind am kommenden Samstag alle Augen gerichtet. Die Parade auf der Garvaghy Road war vorgestern nur der Auftakt für eine Woche mit über hundert Märschen. Höhepunkt ist der 12. Juli, der Jahrestag der Schlacht am Boyne, in der der protestantische Wilhelm von Oranien 1690 seinen katholischen Widersacher Jakob II. besiegte. Der Oranier-Orden, benannt nach jenem Wilhelm, will an diesem Tag durch die Ormeau Road marschieren. Im vorigen Jahr war es dabei auch zu Straßenschlachten gekommen.

Die politischen Folgen der britischen Entscheidung, die Parade zu genehmigen, sind weitreichend. Ein Waffenstillstand der IRA ist in weite Ferne gerückt – wenn er überhaupt in Betracht gezogen wurde. Die britisch-irischen Beziehungen sind schwer belastet. „Die britische Regierung ist verpflichtet, die Lage der katholischen Minderheit zu verstehen“, sagte Premierminister Bertie Ahern. „Es war eine schlechte Entscheidung.“ Martin McGuinness, Vizechef vom politischen IRA-Flügel Sinn Féin, sagte, Nordirland-Ministerin Marjorie Mowlam habe schnell von ihren Vorgängern gelernt, wie man doppelzüngig verhandle.

David Trimble, Chef der größten unionistischen Partei, war zwar in Portadown, marschierte aber nicht mit. Für den Fall, daß die Parade verboten worden wäre, hatte er angedroht, die Mehrparteiengespräche platzen zu lassen. Nun gehen sie im September weiter. Grund für Optimismus ist das nicht. Ralf Sotscheck

Kommentar Seite 1