Ein Stückchen Apartheid in Berlin

Seit 1. Juni dürfen Asylbewerber nur noch in zwei Magazinen der Hauptstadt einkaufen. Die Familie El Hamoud muß sich dort per Gutschein versorgen – zur festgelegten Zeit  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Gut zwei Stunden ist sie unterwegs gewesen. Andere reisen in dieser Zeit von Berlin bis Hamburg. Sie aber ist nur durch die Stadt gefahren: Bus, U-Bahn, noch einmal U-Bahn, wieder Bus, quer durch Berlin. Wenn Maysaa El Hamoud dann mit ihren Einkaufstaschen wieder zu Hause ist, hat sie eine fast fünfstündige Odyssee hinter sich. Für jede Flasche Olivenöl, für jede Packung Papiertaschentücher, die sie beim Einkauf vergessen hat, müßte sie sich erneut auf die Reise machen. Andere würden einfach in den nächsten Supermarkt gehen oder zum Tante-Emma-Laden an der Ecke. Das hat auch Maysaa El Hamoud bisher gemacht. Doch seit 1. Juni darf sie das nicht mehr. Ein paar Sätze, in Bonn auf geduldiges Papier gedruckt, machen jeden Einkauf zum diskriminierenden Akt.

Seit Juni gilt für Flüchtlinge, die wie die El Hamouds schon seit Jahren in Deutschland leben, das Asylbewerberleistungsgesetz. Die elfköpfige Familie aus dem Libanon muß jetzt mit einem Monatsbudget auskommen, das um mehr als 20 Prozent unter dem Sozialhilfesatz liegt. Und aus dem Geld, das sie früher am Monatsanfang bekam, ist bis auf ein mageres Taschengeld ein Stück weißes Papier geworden: „Kostenübernahme für Grundleistungen gemäß 3 (1) Asylbewerberleistungsgesetz“ steht darauf. Allein mit diesem Zettel in der Hand können die El Hamouds jetzt einkaufen gehen.

Von Bundesland zu Bundesland, aber auch von Kommune zu Kommune wird das neue Gesetz unterschiedlich gehandhabt. Einige Bundesländer, wie etwa Sachsen-Anhalt, Hamburg und Bremen, zahlen die – nun gekürzte – Hilfe für Asylbewerber und Flüchtlinge in bar aus, andere geben Wertgutscheine aus, die in Supermärkten eingelöst werden können. Berlin hat sich für die schikanöseste Auslegung des neuen Gesetzes entschieden. Der Senat hat zwei große Lebensmittelmagazine eingerichtet, eines für die Flüchtlinge aus dem Norden, eines für die aus dem Süden der Stadt.

Aus fünfundzwanzig Wohnheimen, verstreut über die ganze Stadt, müssen Asylbewerber nun dorthin pilgern – für jedes Pfund Zucker, jede Rolle Klopapier, jedes Kilo Tomaten. Die Fahrt für U-Bahn und Bus kostet 7,20 Mark pro Nase. Die müssen die Flüchtlinge von dem wenigen Bargeld aufbringen, das ihnen das neue Gesetz noch gewährt – 80 Mark Taschengeld im Monat.

Mädchen wie Maysaa El Hamoud schwänzen jetzt für den Einkauf die Schule. Wie sollte der Vater sonst allein die schweren Einkaufstaschen schleppen, vom Industriegebiet im Berliner Norden ins kilometerweit entfernte Wohnheim im Osten?

Dreizehn Personen! In einem der beiden Lebensmittelmagazine wedelt Mahmoud Al Awad erbost mit seinem Kostenübernahmeschein. Für einen dreizehnköpfigen Haushalt muß er den Einkauf jetzt hier tätigen, obwohl bei Aldi in seiner Nachbarschaft alles rund 20 Prozent billiger ist und ein arabischer Laden gleich um die Ecke heimische Produkte anbietet. Und wie soll er den Einkauf nach Hause bugsieren? Die älteren Kinder sind in der Schule, sie können nicht helfen, und jemand muß zu Hause bleiben, um auf die kleineren aufzupassen. Seit sieben Jahren leben die Al Awads in Berlin. „Warum“, fragt der libanesische Familienvater, „tut man uns das jetzt an?“

Was man ihm und den anderen Flüchtlingen antut, ähnelt einem Stück Apartheid in Deutschland. Wer Flüchtling ist, hat nicht mehr in einen normalen Laden zu gehen, sondern durch eine abgewetzte Stahltür in einen Lagerraum mit lieblosen Regalen. Anfangs durfte sogar nur je ein Mitglied einer Familie den Verkaufsraum betreten, die übrigen mußten draußen vor der Stahltür warten. Um 16 Uhr schließt das Magazin seine Pforten. Freitags ist bereits um 14 Uhr Schluß. Und samstags, wenn deutsche Familien losziehen zum Wochenendeinkauf, haben Asylbewerber überhaupt nichts mehr zu suchen in den Magazinen.

„2,99 Mark die Eier, bei Aldi zahle ich eine Mark weniger“, und das Shampoo 3,49 hier, „das krieg ich bei Lidl für 1,89.“ Ibrahim El Hamoud geht von Regal zu Regal, fuchtelt erbost mit Cola-Flaschen, die er sich zu dem Preis nicht leisten kann. Ratlos steht er vor plastikverschweißtem Mischbrot, von dem er weiß, daß seine Kinder es nicht anrühren werden. „Und neulich war nicht einmal das zu kriegen“, schimpft El Hamouds Landsmann zur Rechten, „und ich mußte zweimal herreisen, weil schon morgens die Milch alle war.“ Andere Dinge gibt es hier gar nicht erst zu kaufen – kein Kugelschreiber, kein Schreibheft für die Kinder, keine Zigaretten, nicht einmal ein paar Socken sind im Warenangebot vorgesehen.

Seit einem Monat schon sorgt der Zwang zum Einkauf in den beiden Sonderläden in Berliner Flüchtlingsheimen für Aufruhr. Auch die Betreiberfirma des Magazins, die Hotel- und Wohnheimkette Sorat, bekommt täglich wütende Reaktionen zu spüren. Als sich an einem Dienstagmorgen eine wütende Gruppe von Palästinensern zum spontanen Protest vor dem Laden versammelt, schickt Sorat gleich ihren Abteilungsleiter aus der Zentrale, einen Diplompsychologen, um die Lage zu deeskalieren. Der redegewandte Mann zeigt „vollstes Verständnis für Ihre berechtigte Wut, aber bitte lassen Sie die nicht an unseren Verkäuferinnen aus. Wir haben die Gesetze doch nicht gemacht.“ Daß seine Firma an diesem Gesetz wohl auch verdient, sagt er nicht. Nur daß es Ärger geben würde, hat der Psychologe sofort geahnt: „Als das in Bonn verabschiedet wurde, habe ich mich gleich gefragt, wie das funktionieren soll. So was kann man doch Leuten, die seit Jahren hier leben, nicht zumuten.“

An diesem Morgen läuft der spontane Protest des kleinen Grüppchens ins Leere. Am morgigen Mittwoch aber werden mehr Leute wiederkommen. Da hat der Flüchtlingsrat um 14 Uhr zu einer Kundgebung vor einem der beiden Magazine in der Kreuzberger Methfesselstraße aufgerufen.