Seen und gesehen werden

Bescheiden, aber wahrhaftig – das wunderbare polnische Filmfestival in Lagow an der Lebuser Seenplatte  ■ Von Helmut Höge

„Auf den weiten Gebieten der Lebuser Seenplatte um Lagow haben sich schon seit eh und je die verzwickten Schicksale der Deutschen und Polen verflochten“, heißt es im Faltblatt der örtlichen Touristenagentur. In den letzten 27 Jahren ging es dort jedoch vornehmlich zwischen den osteuropäischen Filmschaffenden und ihren Kritikern ab. Schon vorher hatte sich das romantisch zwischen zwei Seen gelegene Dorf am Rand der schlesischen Woiwodschaft Zielona Góra zu einem beliebten Sommertreffpunkt der polnischen Jugend entwickelt. Mit Gründung des Filmfestivals – das lange Zeit als „Lebuser Filmsommer“ firmierte (um dort auch Filme noch vor ihren offiziellen „Festival“- Premieren zeigen zu können) – bekam das Lagower Camping- und Badeleben einen pädagogisch wertvollen Inhalt.

Krakau gegen Lodz gegen Warschau

Polen hat ein dem Kulturministerium unterstehendes Filmkomitee, das unter anderem auch Festivalförderung betreibt. In den siebziger Jahren wurde das Filmfestival in Gdańsk gegründet, das später wegen der Streiks nach Gdynia auswich. Heute gibt es noch ein Kurzfilm-Festival in Krakau, ein Festival Neuer Medien in Lodz, ein katholisches Filmfestival in Nepokalanow sowie ein internationales Filmfestival in Warschau. Mit den knapper werdenden Subventionen haben die Festivals angefangen, untereinander zu konkurrieren. Der Lagower Festivalleiter Andrzej Kawala bekam das Budget in diesem Jahr erst Mitte Juni genehmigt, vorher mußte er auf eigenes Risiko die Vorbereitungen in Gang setzen. Er ist daneben auch noch seit zehn Jahren Pächter des Schlosses – ein ehemaliges Johanniter-Ordenskloster, in dem die Diskussionen, Partys und Preisverleihungen stattfinden. Auch das Betreiben dieses Hotels mit Restaurant wird immer schwieriger: Die Gemeinde hat kein Geld für Renovierungen, während des Festivals stürzte bereits ein Teil der Außenmauer ein.

Seit langer Zeit bekam in diesem Jahr wieder einmal ein polnischer Film einen Preis: Jerzy Stuhrs „Love Stories“ – die Liebesgeschichten von vier Männern (ein Dozent, ein Offizier, ein Priester und ein Gefängnisinsasse). Während der Preisverleihung zwangen die etwa 1.500 meist jugendlichen Besucher der Freiluftbühne den Bürgermeister von Zielona Góra, erst einmal Jerzy Stuhr reden zu lassen. „Ja, wir Polen sind anarchistisch“, erläuterte ein neben mir Stehender diese kleine Regiepanne.

Neben Jerzy Stuhr bekam auch noch der polnische Jungfilmer Michal Rosa einen Preis für seinen Film „Paint“ – über die Selbstfindungsprobleme heutiger Jugendlicher. Außerhalb des Wettbewerbs lief der alle begeisternde Kurzfilm von Marek Piwowski „A March“. Über Geheimdienstkanäle will der polnische Generalstab aus dem Brüsseler Nato-Hauptquartier erfahren haben, daß man dort die polnische Marschiertechnik derart ablehnt, daß es die Aufnahme Polens in die Nato gefährdet. Hohe polnische Militärs veranstalten deswegen einen Workshop, um einen neuen Marsch für die polnische Armee zu finden. Dazu haben sie Vertreter vieler gesellschaftlicher Kräfte eingeladen. Eine ähnliche Satire auf die Bundeswehr ist wahrscheinlich unmöglich. Von den ausländischen Filmen wurde Helke Misselwitz' deprimierendes „Engelchen“ ausgezeichnet sowie die tschechische Freiheitshymne „The Conspirators of Lust“ von Jan Svankmajer. Laut Festivalkatalog ein „erotischer Film, in dem kein Geschlechtsverkehr vorkommt“. Den ersten Preis erhielt der ungarische Spielfilm von Sara Sandor „The Prosecution“ – über eine Begegnung zwischen einer ungarischen Bauernfamilie und zwei Sowjetsoldaten Ende 1944, die für einige tödlich endet, für andere in Sibirien. Letztere wurden 1993 rehabilitiert.

Kornel Miglus, Leiter der Filmabteilung im polnischen Kulturinstitut Berlin und für die Vorauswahl der deutschen Filme zuständig, meint, daß es seit langem sehr gute Beziehungen zwischen Polen und Ungarn gibt und letztere es immer wieder schaffen, eigenwillige Filme zu machen. Auch zum tschechischen Kulturinstitut in Prag hat das Festival von Lagow gute Kontakte. Nach der Wende entstand in Cottbus ein Filmfestival mit einer ähnlichen osteuropäischen Orientierung wie das von Lagow. Seit einigen Jahren arbeiten beide eng zusammen. Anders als Cottbus muß Lagow jedoch seine Anträge auf Förderung des Festivals durch die EU erst in Warschau genehmigen lassen – und gerade von dort erwartet man jetzt das Schlimmste.

In diesem Jahr gab es erstmalig einen Sonderpreis für einen Dokumentarfilm – ihn bekam Pavel Kedzierski für „Jaka Polska“ (Was für ein Polen?): über den letzten Präsidentschaftswahlkampf. Auch der gemeine Dokumentarfilm von Jurij Chaszczewatski – über den weißrussischen Präsidenten Lukaschenko – wurde noch einmal in Lagow gezeigt. Erwähnt sei ferner der böse russische Kurzfilm „We build a house today“, in dem eine Gruppe Bauarbeiter mit einem Teleobjektiv beobachtet wird. Das Ende ist – laut Katalog – überraschend: „Das Haus steht fertig da!“

Gern kommen gerade junge Menschen

Nicht nur in die drei Kinos, auch zu den Filmdiskussionen kommen sehr viele junge Leute. Es gibt sogar einen Preis für die beste junge Filmkritik. Man sagt in der Branche, es gehe in Lagow inzwischen zu kritisch zu, auf eine Weise, die den Filmen eher schade. Auf mich wirkten die Diskussionen erst einmal viel weniger leichtfertig und nicht derart von Selbstdarstellung geprägt wie ähnliche Veranstaltungen in Deutschland. Als „geistiger Festivalleiter“ gilt seit Jahren der Filmkritiker und Historiker Andrzej Werner. Dazu werden auch immer wieder Philosophen nach Lagow eingeladen, zuletzt der Heidegger-Interpret Cesare Wodzinski.

Fast rund um die Uhr sitzt man in Lagow zusammen, und zwischendurch schaut man sich von einem Café aus die zu Hunderten auf der Hauptstraße hin- und herflanierenden Jugendlichen (in Hotpants) an – oder nimmt ein kühles Bad im See. Zwar gibt es dort nur wenige Urlauber, die mit Motorrädern oder schnellen Autos alkoholisierte Initiationsrituale durchführen, dennoch zeigt seit vier Jahren eine schwarze polizeiliche Spezialeinheit während des Filmfestivals – vor allem vor der Diskothek von Lagow – drohende Präsenz. Die Filmleute treffen sich nachts jedoch meist im „Abflußrohr“, der Kellerkneipe des ehemals staatlichen Hotels Lesnik, zu der noch eine überdachte Lagerfeuerstelle am See gehört.

Einmal verirrte sich ein Regisseur mit Familie bei einem Spaziergang auf ein Militärübungsgelände in der Nähe: Da er eine Videokamera dabei hatte, wurde er sogleich unter Spionageverdacht festgenommen. Am falschen Ort fühlte sich auch eine offizielle Film-Delegation aus Litauen, die in schwarzen Smokings angereist war. In Lagow tragen die meisten T-Shirts und Shorts. In fast jedem Haus kann man billig Zimmer mieten, ferner gibt es jede Menge Bootsverleihe und einen Reiterhof. Der Besitzer will die Pferde jedoch bald verkaufen, um sich einen Computer anzuschaffen.

Am letzten Tag des Festivals traf der Regisseur Marek Piwowski am See einen Bekannten, der inzwischen reich geworden und mit einem Motorboot angereist war. Piwowski konnte ihn dafür interessieren, das Schloß für etwa 10 Millionen Mark zu übernehmen und zu renovieren, unter anderem soll ein neues Kino dort eingebaut werden.

Künftig strictly underground?

Dies wurde bereits alles mit der Gemeinde abgesprochen. Für das Festival wäre es vielleicht ein „Happy End“ – so lautet auch der Titel eines in Lagow gezeigten tschechischen Films von Petr Zelenka, in dem es jedoch eher umgekehrt um eine für den Markt zusammengestellte Musikgruppe geht, die erst von der Plattenfirma gelinkt wird und dann beschließt, unter dem neuen Namen „Happy End“ nur noch „strictly underground“ zu spielen.

Der Schloßbesitzer in spe hat schon jetzt verlauten lassen, das Filmfestival künftig besser vermarkten zu wollen. Einige Filmkritiker befürchten bereits, das dies den Charakter von Lagow ruinieren wird. Schon in diesem Jahr gab es eine erste Werbeveranstaltung auf dem Schloß: Die staatliche Schnapsbrennerei Polmos, das heißt ihre sehr erfolgreiche Gebietsvertretung von Zielona Góra, lud zu einem Empfang, auf dem zum einen der schon etablierte proletarische Wodka „Siwucha“ (Schwarzmarkt) und zum anderen der neue edle Tropfen „Polska wodka“ präsentiert wurden – bis zum Umfallen.