■ Gespräch mit Thomas Szasz, einem der prominentesten Vertreter der Anti-Psychiatrie-Bewegung der siebziger Jahre, über die Chancen für das im Februar 1998 an der Freien Universität Berlin stattfindende Foucault-Tribunal zur Lage der Psychiatrie
: „Die Gesellschaft schafft sich immer neue Irre“

taz: Glauben Sie, daß von der Psychiatrie, gegen die jetzt mit dem Foucault-Tribunal Anklage erhoben wird, der Fehdehandschuh aufgenommen wird?

Thomas Szasz: Da bin ich nicht sonderlich optimistisch. Die Praxis der gewalttätigen Psychiatrie ist in der Gesellschaft sehr verbreitet. Sie wird in erster Linie genutzt in den Familien. Wenn es dort ein unbequemes Familienmitglied gibt, fängt man an, sich mit ihm als einem möglichen Fall für die Psychiatrie zu beschäftigen. Das gleiche geschieht auch zwischen Ehepartnern, wenn einer von beiden depressiv wird und damit nicht einlöst, was von ihm bei der Heirat erwartet werden konnte.

Bei Shakespeare sucht Lady Macbeth um medizinische Hilfe nach ...

... aber der Arzt kann ihr nicht helfen. Woraufhin sich Lady Macbeth umbringt – aus durchaus logischen Gründen. Ihr Freitod soll als Eingeständnis ihrer Schuld verstanden werden. Sie war nach allem eine kriminelle und schuldige Person.

Allen Menschen billigen Sie zu, so zu leben, wie sie wollen. Aber wie sollen sich jene verhalten, die sich durch andere gestört fühlen?

Wenn Sie verheiratet sind, Ihr Mann sehr depressiv ist, zu arbeiten aufhört und zuviel trinkt, wäre es die richtige Art darauf zu reagieren, daß Sie ihn verlassen. Das ist besser, als daß er in der Psychiatrie eingesperrt wird. Kurzum: Ich bin dafür, daß Menschen erlaubt sein soll, sich gestört zu fühlen.

Aber wenn sie keine Hilfe wollen, dann brauchen sie offensichtlich auch keine Hilfe?

Natürlich nicht. Die Vorstellung, daß man einem Erwachsenen ohne seine Zustimmung helfen müsse, ist ein Widerspruch. Man muß wissen, was die Leute selbst wollen. Um ein Beispiel zu nennen: Viele Menschen, die unter Krebs leiden, wollen nicht operiert werden. Dann soll man es auch nicht tun.

Was fordern Sie?

Daß psychiatrische Hilfe, wie jede andere medizinische Hilfe auch, die Zusammenarbeit mit dem Patienten sucht.

Halten Sie die Psychiatrie überhaupt für reformierbar?

Nein, nein, die Psychiatrie ist sehr einfach zu reformieren. Ich werde sehr häufig mit der These in Verbindung gebracht, die Psychiatrie abschaffen zu wollen. Eine sehr dumme Behauptung. Falsch ist nicht die Psychiatrie, falsch ist der Zwang in ihr. Wenn Psychiater wie Augenärzte oder Nierenärzte arbeiten würden, erhöbe ich keine Vorwürfe gegen sie.

Soll das heißen, daß alles, was die Psychiater machen, gut sei?

Das ist für mich nicht die Frage, solange es die Patienten für gut halten. Es zählt allein das, was auf Konsens beruht. Ich möchte nur die Gewalt in der Psychiatrie abschaffen.

Macht es aber wirklich Sinn, die verrückte mit der homosexuellen Lebensweise gleichzusetzen, wie es auch beim Foucault-Tribunal gefordert werden wird?

Ich halte das für die richtige Forderung. Man könnte auch noch andere Beispiele nennen, die von der Gesellschaft nicht toleriert werden, etwa die Selbstbefriedigung.

Die ja nicht mehr vollständig als Sünde gebrandmarkt wird.

Dafür zeigt sich die Gesellschaft mittlerweile intolerant gegenüber Verhaltensweisen, die sie lange geduldet und gefördert hat.

Spielen Sie auf die Debatten um Alkohol und Nikotingenuß in den USA an?

Ja, dort werden Alkohol und Rauchen zumindest geradezu als Geistesstörungen dargestellt. Ebenso wie der Konsum von Drogen. Aber noch im 19. Jahrhundert konnte man Heroin und Opium konsumieren. Damals war das keine Geisteskrankheit, heute ist es eine.

Zunächst sind nur einige Gesetze geändert worden.

Aber dahinter verbirgt sich mehr. Die Gesellschaft schafft sich immer wieder neue Geistesstörungen, um sie dann unter Gewaltanwendung zu kontrollieren. Es sind eben mehr als Gesetze. Rauchen und Trinken gelten insgeheim als Geisteskrankheiten.

Gibt es überhaupt eine politische Lobby für die Antipsychiatriebewegung? Wo sehen Sie politische Koalitionen?

Es gibt keine politische Lobby. Es kann auch keine geben, weil – das wird in Deutschland nicht anders ein – es niemand wagen kann, unsere Ansichten zu unterstützen, solange sie als unwissenschaftlich angesehen und für ganz und gar falsch gehalten werden. Es gibt selbst in den Medien noch nicht einmal so etwas wie ein ernsthaftes Bemühen um das Verstehen. Der korrekte Standpunkt lautet nach wie vor: Geisteskrankheiten sind biologisch bedingt; Menschen, die Symptome solcher Defekte aufweisen, sollten mit Medikamenten behandelt werden, notfalls unter Zwang. Abweichende Meinungen haben nie ein öffentliches Ansehen genossen.

Zumindest in den liberalen Medien hat es Diskussionen über eine andere Sichtweise auf die Psychiatrie gegeben.

Aber kein Politiker kann es sich leisten, eine andere Ansicht zu haben, wenn er wieder gewählt werden will. Kein Psychiater kann es sich leisten, von der herrschenden Lehrmeinung abzuweichen, wenn er nicht seine Arbeit verlieren will. Das ist ein sozialer Druck, dem die Menschen ausgesetzt sind.

Wo ist denn nun die Verbindung zur Homosexualität?

Weil die gesellschaftliche Sicht auf Homosexualität ein gutes Beispiel für das ist, was wir denken. Wenn jemand vor 40 Jahren homosexuell war und im öffentlichen Leben stand, dann hatte er seine Sexualität zu verbergen.

Was inzwischen nicht mehr unbedingt der Fall sein muß.

Richtig, und nicht anders erging es früher Juden, Frauen oder Schwarzen. Wenn jemand der Meinung war, er könne gewisse Dinge einfach tun, obwohl er schwarz war, dann merkte er schnell, daß er eben nicht alles tun durfte. Jetzt kann er es.

Sie kämpfen seit Jahrzehnten meist vergeblich gegen die herrschende Psychiatrie. Haben Sie nicht den Mut verloren?

Optimistisch bin ich nicht, aber man muß es doch immer wieder versuchen. Die Forderung, die wir erheben, ist ja sehr einfach: Die Psychiatrie ist ein Zweig der Medizin; und Psychiater sollten keine Gewalt gegen Patienten anwenden; Menschen sollten nicht ihrer Freiheit beraubt werden und in der Psychiatrie so wenig gegen ihren Willen behandelt werden, wie sie auch nicht gegen ihren Willen in anderen Zweigen der Medizin behandelt werden.

Was erwarten Sie vom Foucault-Tribunal?

Jedenfalls wird es ein wichtiges Ereignis. Denn es geschieht meines Wissens nach das erste Mal auf der Welt überhaupt, daß eine Universität der Forderung nach Abschaffung der Zwangspsychiatrie ihre Unterstützung zusichert. Die Ansicht, daß die Psychiatrie die Menschen auch gegen deren Willen behandeln darf, hat die westliche Welt für nahezu drei Jahrhunderte geprägt. Das Tribunal kann schon deshalb bedeutend werden, weil dessen Fragestellung bislang keinen Platz gehabt hat in den Universitäten.

Wie bedeutsam ist es, daß sich die Psychiatriebetroffenen an einem solchen Tribunal beteiligen und es mitgestalten?

Es ist von allergrößter Wichtigkeit, daß sich Psychiatriepatienten und auch ehemalige Patienten beteiligen. Denn Opfer der Psychiatrie haben immer schon, seit Jahrhunderten, gegen ihre Behandlung protestiert, aber sie haben selten Gehör gefunden. Diese Menschen dürfen nicht allein bleiben, nur weil man ihnen keinen Glauben schenkte.

Für wie wichtig halten Sie Aufklärung, damit es in der Gesellschaft einen anderen Umgang mit den Menschen gibt, die sich selbst als verrückt bezeichnen?

Für dieses Tribunal besteht nicht die Notwendigkeit, Alternativen anzubieten – es wäre einfach, das zu tun, aber es bedarf gar keiner Alternativen. In meinen Schriften bediene ich mich seit nunmehr fast 40 Jahren einer, wie ich denke, sehr stichhaltigen Analogie mit der Sklaverei. Auch sie war lange ein ausgesprochenes Übel. Es gab sie über Tausende von Jahren, aber eines Tages war der Punkt erreicht, daß sie abgeschafft wurde. Die Voraussetzung dafür war nicht, daß es einer Alternative zu ihr bedurft hätte, oder daß man sich vorher gefragt hätte, was man denn, bitte sehr, mit diesen Menschen dann anfangen sollte.

Und so wird es eines Tages auch mit der Psychiatrie und den in sie Eingeschlossenen geschehen?

Man wird sie eines Tages abschaffen, ja. Und wenn das geschehen ist, wird die Gesellschaft andere und bislang nicht denkbare Möglichkeiten entwickeln für die Probleme, die durch sogenannte Geisteskranke entstehen.

Warum meinen Sie, daß es keine psychischen Krankheiten gibt?

Geisteskrankheit gibt es ganz offenkundig nicht. Der Begriff bezeichnet ein Fehlverhalten für das Verhalten von Menschen, die in irgendeiner Art die Regeln der Familie oder der Gesellschaft verletzen. Es gibt scheinbar ein Verhalten, das Menschen als geisteskrank ausweist.

Es gibt Ihrer Meinung nach Geisteskrankheiten?

Die einzigen Krankheiten, die tatsächlich existieren, sind die des Körpers. Die gibt es. Wenn Menschen gestorben sind und die Pathologen ihre Körper untersuchen, dann haben sie noch nie Anzeichen einer Geisteskrankheit gefunden. Wenn Geisteskrankheit etwas mit dem Hirn zu tun hätte, dann könnte sie durch Neurologen behandelt werden. Die Patienten unterwürfen sich einer solchen Behandlung freiwillig. Aber Neurologen haben kein Recht, einen Hirntumor zu behandeln – selbst wenn der Patient ein Stück Papier unterschrieben und damit seine Zustimmung gegeben hat.

Gälte das auch für Epileptiker?

Ja, jedenfalls halte ich es für ganz und gar verkehrt zu sagen, daß Geisteskrankheit eine Hirnerkrankung sei – was gegenwärtig eine sehr populäre These ist. Die Leidtragenden sind die Patienten, die weiterhin unter Zwang behandelt werden.

Haben Sie den Eindruck, daß es einen Unterschied gibt zwischen Frauen und Männern, wenn es darum geht, zu seinem Verrücktsein zu stehen, es zu leben oder ihre beziehungsweise seine eigene Verrücktheit anzunehmen?

Das ist ein wichtiger Punkt – es gibt Unterschiede –, der aber für Frauen beispielsweise nicht besonders bedeutsam ist. Grundsätzlich ist es für den je einzelnen sehr gefährlich, in einer machtlosen Position in der Gesellschaft zu leben. Deshalb besteht eine große Wechselbeziehung zwischen psychischer Erkrankung einerseits und der wirtschaftlichen Situation beziehungsweise dem Bildungsstand andererseits.

Statistiken zufolge sind die meisten psychiatrisierten Menschen arm.

Wenn jemand in den USA ein reicher Mann ist, ein Mediziner oder ein Rechtsanwalt, wird er niemals Opfer der Psychiatrie werden. Interview: Kathrin Gerlof