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Pinkelpause

Ein Drama in drei Akten für vier Theaterkritiker, einen Autor, seinen Vater und eine Verirrte  ■ Von Jürgen Berger

Erster Akt

Die Münchner Kammerspiele. Freitag abend. Zur ersten Premiere der Saison 97/98 sammeln sich die üblichen Kritiker, Insider, Claqueure. In der Herrentoilette: vorerst Leere. Im Foyer gedämpftes Stimmengewirr, man versteht Satzfetzen wie „Was ist schon Manker als Kaninchen gegen Hübchen als Ratte“ oder „die Canonica könnte eine zweite Clever werden, rein stimmlich“. Die Tür öffnet sich, herein Gerhard Stadelmaier („FAZ“). Geht an eines der Pissoirs. Nach kurzer Zeit entspannt er sich.

Stadelmaier (zu sich): Egal wie, man macht es falsch. Ohne Bier liegen die Nerven blank, und unsereins lebt in Gefahr, schon im Theater zu randalieren. Mit Bier tritt zwar die nötige Schwere ein, dafür drängt sich die Frage auf, ob die Blase hält?

Die Tür geht auf. Herein C. Bernd Sucher („Süddeutsche Zeitung“). Stadelmaier stoisch. Sucher bleibt verunsichert stehen, entscheidet, daß es noch nicht so dringend ist. Dreht ab und geht.

Stadelmaier (zu sich): Meint wohl, ich hätt' ihn nicht gesehen. Dünnbrettbohrer. (Stille) Jetzt hat er ein Problem.

Die Theaterglocke läutet zum erstenmal. Die Tür öffnet sich. Herein Benjamin Henrichs („Die Zeit“).

Henrichs: Natürlich wollen sie möglichst viele Zuschauer unterbringen, aber müssen sie uns so Sitz an Sitz, Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte und Schweiß an Schweiß in den Zuschauerraum pressen. Jeder Stehplatz jedes deutschen Stadions bietet mehr Platz als der großzügigste Sitz in einem deutschen Theater. Und genau dieses Theater hier, in dessen Toilette wir, wenn wir nach vollendeter Notdurft vor dem Spiegel stehen und einmal mehr unsere Trauer über den sterbenden Wald von der Trauer über unser sterbendes Haupthaar verdrängt wird...

Was wollt ich sagen? Ah, ja. Dieses Theater hier, in dessen Toilette wir einmal mehr auf die traurige Tatsache hinabsehen können, daß auch bei uns, wie bei den meisten Männern, der rechte Hoden tiefer als der linke hängt, genau dieses Theater, in das wir uns gezwungenermaßen häufiger begeben als in andere, ist das engste der Republik. Aber (er rezitiert, die Versgrenze mitsprechend): „Du schweigst und duldest, denn sie versteh'n dich nicht, / Du edles Leben! Siehest zur Erd und schweigst / Am schönen Tag, denn ach! Umsonst nur / Suchst du die Deinen im Sonnenlichte.“

Stadelmaier: Novalis?

Henrichs: Hölderlin.

Stadelmaier: Dacht' ich mir.

Die Theaterglocke läutet zum zweitenmal. Drängend. Stadelmaier ist fertig. Geht zum Waschbecken.

Henrichs: Kennst du Heilbronn? Ich war mal in Heilbronn.

Stadelmaier, inzwischen am Waschbecken, räuspert sich.

Henrichs: Na ja, einmal ist keinmal. Aber ich sage dir, Heilbronn hat großzügige Sitze. Ich träume heute noch von den Sitzen in Heilbronn und sage mir in schwachen Minuten: Benjamin, vergiß München, vergiß Wien und Lausanne. Vergiß auch Berlin, Bochum und Hamburg. Laß uns nur noch nach Heilbronn fahren und die Sitze im Heibronner Theater genießen.

Auch er jetzt am Waschbecken. Stadelmeier blickt immer wieder zur Tür.

Stadelmaier: Jetzt hat er ein großes Problem.

Henrichs: Wer?

Stadelmaier: Sucher.

Die Theaterglocke läutet zum drittenmal. Endgültig.

Henrichs: Ich glaube, ich könnte es.

Stadelmaier: Was?

Henrichs: Nur noch im Heilbronner Theater sitzen. Schöne Vorstellung. Ich sitze in Heilbronn, und dann kommen Peymann und Bondy und inszenieren nur für mich.

Beide ab. Dunkel.

Zweiter Akt

Dieselbe Toilette. Vorerst leer. Plötzlich von draußen: Türschlagen, anschwellendes Stimmengewirr. Herein C. Bernd Sucher, schnell zu einem der Pissoirs. Ein Zittern durchläuft seinen Körper. Er entspannt sich.

Sucher: Endlich das ganze Sozialismusgewürge überwunden. Brecht, Weiss und die 68er-Mischpoke in der Biotonne der Geschichte entsorgt, während die Besserverdienenden der Republik ihre Verantwortung für das Lebensmittel der Nation erkannt haben – also die Mäzene und Sponsoren meine ich – und Seite an Seite mit dem Kritiker – also mit mir – für die Kultur und ein finanziell runderneuertes Theater aus dem Geiste der attischen Demokratie kämpfen, während sie also als Demokraten ihre Verantwortung für den unmündigen Mitbürger entdeckt haben, der nur im Theater noch zu veredeln ist...

Da haben wir all das erreicht, und in einem der ersten Theater dieser Republik reicht es nicht für eine zweite Toilette. Ich will ja keine allein für mich, beileibe nicht. Aber müßten nicht diejenigen, die dem Theater wieder auf die Beine helfen, eine getrennte und besser ausgestattete Toilette im deutschen Theater vorfinden? Weit entfernt davon stehe ich hier und müßte mich überall an der Seite dieser Stadelmeiers rumdrücken, wäre ich nicht Manns genug, mich zu beherrschen.

Die Tür öffnet sich. Herein Peter Iden („Frankfurter Rundschau“). Hinter ihm ein Jungautor. Iden wählt ein Pissoir in Entfernung zu Sucher. Der Jungautor besetzt das Pissoir neben Iden. Nach einiger Zeit.

Jungautor: Es sieht zwar so aus, als ginge es in meinem Stück um die Stadtguerilla, aber das ist ironisch gemeint. In Wirklichkeit entlarve ich die Utopie an sich.

Iden (nervöser Seitenblick zu Sucher): Was wollen Sie eigentlich?

Jungautor: Daß Sie sich die Uraufführung ansehen.

Iden: Wo?

Jungautor: Detmold, 29. Oktober.

Iden: Bin ich in einer Besprechung.

Jungautor: Die folgenden vier Tage spielen wir auch, wenn Sie...

Iden: Glaube eher nicht...

Jungautor (mit der rechten Hand): Darf ich Ihnen meine Karte geben?

Iden (nervöser Seitenblick zu Sucher): Sie dürfen.

Sucher (geht zum Waschbecken. Wirkt entrückt): Wann habe ich zum letztenmal geschrieben, daß Becketts Texte was Religiöses haben? Muß ich mal wieder schreiben. Wenn ich es den Menschen nicht nahebringe, wer dann?

Er wäscht sich die Hände. Der Jungautor geht hinaus. Iden kommt ans Waschbecken. In der Tür Benjamin Henrichs, dreht nach einem kurzen Blick ab.

Iden: Was machen Venedig, die Toscana, das Latium?

Sucher: Kaum noch Zeit. Wissen Sie, als Professor ... Ich kann Ihnen sagen, meine Studenten fressen mich auf. Es ist eine wahre Freude.

Iden: Wann haben wir uns eigentlich zum letztenmal beim „Kirschgarten“ getroffen?

Sucher: Letztes Jahr in ...

Iden: Kann nicht sein, denn ich vermeide den „Kirschgarten“ in den letzten Jahren. Habe schon zuviel „Kirschgarten“ gesehen: 1904 in Moskau. Stanislawskij. Nicht wegweisend, aber immerhin. Feuchtwangers Versuch 1917 an den Kammerspielen. Wegweisend nicht, immerhin aber versucht. Dann 47, Berlin, mit der Dagover. Immerhin versucht. 68, Stuttgart, Zadek. Immerhin wegweisend, aber mehr? Und 89, Berlin, Peter Stein. Immerhin!

Sucher: Mein letzter „Kirschgarten“ ...

Iden: Ein Haus in der Toscana und hin und wieder ab nach Venedig genügten mir inzwischen völlig. Hinter mir der Redaktionsalltag und dieses Elendstal vermeintlich kritischer, in Wahrheit aber meist nur wehleidiger Kunst- und Theatermanifestationen. Und vor mir der mythische Wahnsinn eines Syberberg, seine Kraft der emotionalen Anmutung. Oder die seelische Abenteuerlandschaft eines Botho Strauß.

Die Theaterglocke läutet.

Sucher (im Abgehen): Ich nehme meine Sommerfrische in den letzten Jahren eher in Südfrankreich.

Iden will auch gehen. Herein der Vater des Jungautors.

Vater: Sind Sie Herr Iden?

Iden: Bin ich.

Vater: Mein Sohn hat gerade mit Ihnen gesprochen. Sie erinnern sich? Detmold?

Iden: Ach ja.

Vater: Darf ich mich vorstellen. Schrauben Import und Export, Generalvertretung für die Toscana, Umbrien, das Latium.

Die Theaterglocke zum zweiten. Iden will gehen.

Vater: Wie ich höre, sind sie ein Liebhaber der Toscana. Dürfte ich ihnen meine Karte geben, falls Sie irgendwann einmal ein Problem in dieser Richtung haben? Dunkel.

Dritter Akt

Dieselbe Toilette. Leere. Von draußen Stimmengewirr, das Geklapper von Kleiderbügeln. Die Tür öffnet sich, Benjamin Henrichs sieht sich vorsichtig um, betritt die Toilette und stellt sich an eines der Pissoirs, das am weitesten von der Tür entfernt ist. Nach einiger Zeit.

Henrichs: Ach!

Herein Stadelmaier. Stellt sich an das Pissoir neben Henrichs.

Stadelmeier: Du solltest das Alkmene-Ach nicht so häufig verwenden.

Henrichs: Schleicht es sich wirklich so oft ein?

Stadelmaier: Zu oft.

Henrichs: Meinst du nicht Michaelis?

Stadelmaier: Wo wäre da der Unterschied?

Die Tür öffnet sich. Herein Sigrid Löffler. Sie stutzt, bemerkt, daß sie die falsche Tür benutzt hat. Henrichs sieht sie aus den Augenwinkeln, zuckt zusammen, will sich noch entschiedener vom Eingang abwenden, gerät dadurch aber in bedrohliche Nähe zu Stadelmeier. Sigrid Löffler geht ab.

Stadelmaier: Und die Toilette in Heilbronn?

Henrichs: Großzügig, sehr großzügig. Man kann Abstand halten.

Stadelmaier: Neulich in Stuttgart haben sie uns direkt nebeneinander gesetzt. Ich neben Sucher. Kannst du dir vorstellen: Sucher direkt neben mir!

Henrichs (während er zum Waschbecken geht): Daß man Sucher überhaupt noch ins Theater läßt.

Stadelmaier: Seither nehme ich jede Stuttgarter Inszenierung in Grund und Boden auseinander. Stuttgart! Lächerlich. Als ich noch in Stuttgart war und Peymann noch in Stuttgart war. Peymann in Stuttgart und ich in Stuttgart. Welches Theater! Aber heute? Heute haßt der Kritiker das Theater, weil das Theater den Kritiker haßt. Der Kritiker weiß, daß er das Theater haßt und will nicht ins Theater. Aber dann geht er doch hinein, weil er das Theater haßt und weil ihm der Haß des Theaters entgegenschlägt, das am liebsten seine Tür verrammeln würde, wird es des Kritikers gewahr, der sich dem Theater nähert. Aber dann läßt das Theater den Kritiker doch auf einem der Plätze Platz nehmen, weil es vom Haß des Kritikers lebt. (auch er geht zum Waschbecken) Was meinst du, ich glaube, ich hätte das Zeug zu einem zweiten Bernhardt.

Henrichs: Seit Peymann fährt man an Stuttgart vorbei. Ich jedenfalls. Eigentlich fährt man überall vorbei, außer Bondy, Peymann und Brook inszenieren dort, wo man vorbeifährt.

Stadelmaier: Ich dachte Bondy, Zadek und Brook.

Henrichs: Zadek ist bei mir gestrichen.

Stadelmaier: Ich hab' Peymann eliminiert.

Henrichs: Tatsächlich Peymann?

Stadelmaier: Peymann vor Zadek.

Henrichs: Streichen wir Zadek und Peymann?

Stadelmaier: Streichen wir Peymann und Zadek!

Henrichs: Aber wen nehmen für Zadek und Peymann?

Stadelmaier: Kortner und Reinhardt!

Henrichs: Gründgens und Noelte wären besser.

Stadelmaier: Eher Reinhardt und Gründgens.

Beide ab. Nach einiger Zeit der Jungautor. Stellt sich an eines der Pissoirs. In der Tür Iden. Sieht vorsichtig in die Toilette, dreht aber ab, sobald er den Jungautor sieht. Dann Sucher. Kommt herein, geht zum Waschbecken, wäscht sich die Hände.

Sucher: Von wegen Katharsis. Ich fühle mich nach jeder Premiere regelrecht beschmutzt. (Trocknet sich die Hände ab. Während er abgeht.)

Jungautor: Sind Sie Kritiker?

Sucher:(Bleibt irritiert stehen) Kennen Sie mich nicht? Ich rüttle die Republik mit Debatten wach. Müßte ich übrigens mal wieder tun. „Saubere 68er-Kritiker, dreckige 89er-Autoren. Ein Generationenkonflikt?“ Könnte voll reinknallen, wie meine Studenten sagen würden.

(Will die Toilette verlassen, bleibt aber stehen, da man von draußen die Stimmen von Stadelmaier und Henrichs hört, die vorbeigehen.)

Stimme von Stadelmaier: Morgen Wien?

Stimme von Henrichs: Morgen Wien.

Stimme von Stadelmaier: Und nächste Woche Lausanne.

Stimme von Henrichs: Warum Lausanne?

Stimme von Stadelmaier: Warum nicht?

Dunkel.

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