Wasser wälzt sich über Polen

40.000 Polen in Sicherheit gebracht. Flut tötete mindestens 55 Menschen. Die Wellen kommen am Donnerstag nach Deutschland  ■ Von Gabriele Lesser und Matthias Urbach

Über Südpolen und Nordtschechien kreisen Hubschrauber, manche Städte, zahlreiche Dörfer und einzeln stehende Bauernhöfe sind schon fast eine Woche von der Außenwelt abgeschnitten. Fünf Tage lang hat es geregnet. An manchen Stellen sind bis zu knapp 600 Liter zu pro Quadratmeter gefallen, soviel, wie normalerweise in einem Jahr – das entspricht einer Wasserhöhe von 60 Zentimetern. Auf den Dächern stehen Menschen und schwenken Bettlaken. Sie brauchen dringend Wasser und Lebensmittel. Ihre Häuser wollen sie nicht verlassen, da sie Diebe und Plünderer fürchten. Die Rettungsleute in den Hubschraubern werfen Plastiksäcke mit trockenen Decken und Kleidern ab, mit Wasserkanistern und Lebensmitteln. In Polen wurden bereits über 40.000 Menschen in Sicherheit gebracht. Doch manchmal kommt jede Hilfe zu spät. Mindestens 55 Menschen, so melden die Behörden am Freitag nachmittag, sind bei der Hochwasserkatastophe bereits um Leben gekommen: 32 im nordtschechischen Mähren, 23 im polnischen Niederschlesien. Vom Hubschrauber aus ist nicht mehr zu erkennen, wo das Flußbett von Oder, Neiße und Weichsel verläuft. Die einst malerische Landschaft in Niederschlesien und Mähren hat sich innerhalb einer Woche in eine Wasser- und Schlammwüste verwandelt. In Klodzko (Glatz) ist das Wasser inzwischen wieder abgeflossen. Zurück blieb eine verwüstete Stadt: Bis in den ersten Stock hinauf sind die Wohnungen und Häuser zerstört. Auf den Straßen liegen Tausende von Tierkadavern, Autowracks, abgebrochene Balkone, aus den Häusern geschwemmte Möbel. „Ich habe alles verloren. Wo soll ich denn hin mit meinen zwei Kindern?“ fragt schluchzend eine junge Frau. Der Schlamm reicht fast bis zu den Knien, die Fenster sind geborsten, die Schränke mit Geschirr und Lebensmitteln aus der Verankerung gerissen, Schlamm selbst im Schlafzimmer.

Die Regierungen in Polen und Tschechien haben inzwischen Krisenstäbe eingerichtet, die die Hilfsaktionen koordinieren. Außerdem haben beide Regierungen Gelder für die Hochwassergeschädigten in Aussicht gestellt, Tschechien rund acht Milliarden Kronen (430 Millionen Mark), Polen 500 Millionen Zloty (270 Millionen Mark). Günstige Kredite sollen den Geschädigten helfen, ihre Wohnungen, Höfe und Läden wiederherzurichten. In allen größeren Städten haben private und kirchliche Hilfsorganisationen Sammelstellen für Lebensmittel, Trinkwasser und Kleidung eingerichtet. Nun drohen Epidemien: Ruhr, Typhus und Gelbsucht.

Ein Ende der Jahrhundertkatastrophe ist nicht in Sicht. Die beiden Flutwellen der Oder sind inzwischen auf eine Höhe von sechs beziehungsweise neun Metern angeschwollen. In den Städten und Dörfern, denen die Flut noch bevorsteht, bauen die Menschen Dämme aus Sandsäcken und räumen Keller leer. Die Stadt Opole (Oppeln) steht seit gestern zu fast 50 Prozent unter Wasser, heute wird die Flut in Wroclaw (Breslau) erwartet. Vorsichtshalber wurden oberhalb von Krakau Deiche gesprengt, um dem Wasser die Wucht zu nehmen. In Krakau steht die Weichsel zur Zeit dreieinhalb Meter über dem Alarmpegel. Noch halten die provisorischen Dämme der Stadt. Alle hoffen, daß das Wasser das Königsschloß, das direkt an der Weichsel steht, und die Altstadt verschont. Am Sonntag wird die Flutwelle in Warschau erwartet. Auch in Österreich und der Slowakei wird die Situation allmählich kritisch. Hier ist es die Donau, die bereits an einigen Stellen über die Ufer getreten ist.

Die Flutwellen der Oder werden für Donnerstag und Sonntag in einer Woche in Frankfurt (Oder) erwartet. Nach polnischen Prognosen vom Donnerstag ist mit einem Pegelstand von 5,85 Metern über normal zu rechnen. „Dann ist noch 1,20 Meter Luft bis zur Deichkante“, sagt Matthias Freude, Präsident des Landesumweltamtes Brandenburg. Neuere Prognosen gibt es nicht, „weil in Polen die Oder bis zu neun Metern anstieg und mehrere Pegelhäuschen von der Flut weggerissen wurden“. Die Lage werde „verdammt ernst“, so Freude, die Deiche müßten ab Mitte der Woche ständig überwacht werden. Ab sechs Metern Pegelstand müßten Evakuierungspläne erwogen werden. Doch es gebe „keinen Grund für Panik“. Anders als Rhein oder Mosel, wo die Bebauung bis ans Ufer reiche, sei die Oder „naturnah“, mit Flußwiesen und -auen, wo viel Wasser ablaufen könne. Dienstag wird Freude die Polder im Nationalpark Unteres Odertal fluten lassen. An Neiße und Elbe in Deutschland ist der Wasserstand schon wieder am Sinken.