Strandparty mit Stimmwunder

■ Al Jarreau feierte den Nordwolle-Open-Air in Delmenhorst / Der 57jährige als verspielter Jazzer und Showbizz'-Routinier

Der Strukturwandel hat einen Namen: Den der ehemaligen Delmenhorster Fabrik Nordwolle. Torgebäude aus rotem Backstein, ein Ensemble wie aus dem Bilderbuch der Industriearchitektur kennzeichnen die Anlage. Doch alle Symmetrie konnte 1981 die Pleite der traditionsreichen Wollkämmerei direkt an der Bahnlinie Bremen-Oldenburg nicht verhindern. Jetzt setzen die Stadt und die Immobiliengesellschaft Steucon auf einen Dreiklang aus Arbeit, Wohnen und Kultur. Volkshochschule und DienstleisterInnen logieren hier fast emissionsfrei. Kaninchenstall-ähnliche Musterhäuser sind bezogen. Und neben der Bahn sorgt nur die Kultur einmal im Sommer für einen prominenten Lärmpegel. Beim zweiten Nordwolle Open-Air am Sonntag waren kein geringerer als Al Jarreau und seine sechsköpfige Band dafür verantwortlich.

Ein Blick in den virtuellen Plattenschrank zwischen der Generationen zwischen „68“und „X“enthüllt eine Art System dahinter. Anno 1996 machten die drei Gitarristen Al di Meola, Paco de Lucia und John McLaughlin rund 15 Jahre nach der „Friday Night in San Francisco“den Auftakt. Jetzt schweift der Blick weiter nach links, wo zwischen Joe Jackson und Jethro Tull Jarreaus 1977 aufgenommes Live-Doppel „Look to the rainbow“steht. Revivals für den leicht gehobenen Geschmack sind es, die die Agentur C&P aus dem Firmensortiment des Bremer Veranstalters Hermann Pölking-Eiken da konzipiert. Die Veranstalter kalkulieren mit der kollektiven Neugier, ob die Idole von einst noch immer so klingen wie auf der Konserve. Und auf Anfrage beim Veranstalter messerscharf gezählte 2.512 BesucherInnen konnten feststellen, daß Jarreau diesen Vergleich über weite Strecken mit Bravour bestanden hat.

Unter dem Pflaster ist zumindest auf der Nordwolle tatsächlich Strand. Und auf dem staubig-sandigen Boden zwischen Fabrik und Musterhäusern sind kategorisierte Stuhlreihen aufgestellt. „Heute kann ich alles sehen, was Ihr macht“, freut sich der gerade vom Hamburger Westport-Festival kommende Sänger auf der Bühne über die seltene Helligkeit zur Konzertzeit, um sogleich das „what you do“mit einer Mouth-percussion zu umschnörkeln.

Und wie er das kann. Von irgendwelchen Einordnern mit der Lizenz zum Schreiben längst aus der Jazz-Gemeinde exkommuniziert und in die Pop-Ecke entlassen, hecheltrommelt sich der inzwischen 57jährige US-Amerikaner die Lunge aus dem Hals. Schon bastelt der Animateur seinen nasalen Kopfstimmentenor hinzu, springt eine und dann noch eine Oktave tiefer wie zur Demonstration, daß hier der einzig-wahre Al Jarreau auf der Bühne steht und wieder richtig losjazzt.

So viel Verspieltheit geht am bunt gemischten Publikum nicht vorbei. Es ist fest entschlossen, sich einen netten Abend zu machen. Und dem kommt entgegen, daß hier im Unterschied zum Open-Air-Usus keine meterbreite Absperrung ZuschauerInnen und Bühne trennt.

Das durch ein langes, improvisierendes Vorspiel eingeleitete „Take Five“klingt more funky als auf der Konserve – es ist auch an seinen Klassikern nicht spurlos vorbei gegangenen, daß Al Jarreau zu den „Superhits der 80er und 90er“einige beigesteuert hat. Und angefangen beim „L...“oder eben „Al is for Lover“, dem „Mister Radio“oder „Get my boogie down“führen Jarreau und Co sie auch alle auf. Darunter leidet nicht die gute Stimmung, wohl aber die vor der Pause in dialogischer Verspieltheit aufgebaute Spannung. Abgesehen von einem atemraubenden Schlagzeugsolo des Polyrhythmen-Zauberers Michael Baker verdrängt – guter – Pop die Jazzerfreiheit, ersetzt Showbizz'-Routine die Stimmakrobatik. Das auch davon verzückte Publikum trotzt Jarreau drei Zugaben ab. Christoph Köster