Opfer der Flut vor dem Nichts

Die zurückgehenden Wassermassen in Polen hinterlassen Schlammwüsten. Die wenigsten Bauern sind versichert. Regierung verspricht Hilfe  ■ Aus Warschau Gabriele Lesser

Der Schaden beläuft sich auf etwa eine Milliarde Dollar“, schätzte der polnische Innen- und Verwaltungsminister Leszek Miller die Folgen der Hochwasserkatastrophe in Südpolen ein. Doch diese vorsichtige Schätzung vom Freitag letzter Woche ist längst Makulatur. Je weiter das Wasser zurückgeht, um so deutlicher wird das Ausmaß der Zerstörung, das die reißenden Fluten und vor allem der Schlamm angerichtet haben.

Besonders die Bauern sind hart betroffen. Die Familienbetriebe, die meist nicht mehr als 10 bis 20 Hektar bewirtschaften, waren zum größten Teil nicht ausreichend versichert. Zehn Prozent der Bauern haben nicht einmal die Beiträge zur Pflichtversicherung gezahlt. Sie stehen, wenn sie keine Unterstützung erhalten, vor dem Nichts. Die Häuser sind zum Teil unbewohnbar, die Ställe zerstört, die Tiere tot, die Ernte vernichtet und die Maschinen nur noch Schrott.

Zwar sind die Versicherungsbeträge für Haus und Hof nicht besonders hoch: Eine Versicherung, die Gebäude, Inventar, Tiere und Ernte umfaßt, kostet rund 400 Zloty im Jahr (215 Mark). Doch den meisten Bauern erschien diese Vorsorge „rausgeworfenes Geld“.

Vor einem finanziellen Desaster stehen auch die überschwemmten Städte und Gemeinden. Am meisten zerstört haben das Hochwasser entlang der Neiße und die beiden Flutwellen der Oder. Die Schäden in den Ortschaften längs der Warthe und Weichsel sind dagegen relativ gering. Die erste vom Unwetter heimgesuchte Stadt war Klodzko (Glatz) an der Glatzer Neiße. In einer einzigen Nacht stieg hier das Wasser auf bis zu vier Meter an. Drei Tage später hatte sich die Handelsstadt mit den Bürgerhäu-

sern aus dem 19. Jahrhundert in

eine Schlammwüste verwandelt.

Eine gute Woche später gibt es in

einigen Stadtteilen noch keinen

Strom. Das Telefon funktioniert

nicht, aus den Wasserhähnen tropft braune Brühe, und über der Stadt steht noch immer der Geruch von Gas. Ähnlich sieht es in den Städten Neiße (Nysa) und Ratibor (Raciborz), in Oppeln (Opole) und Breslau (Wroclaw) aus.

Am vergangenen Freitag sicherte Ministerpräsident Wlodzimierz Cimoszewicz in einer Fernsehansprache den Hochwassergeschädigten rund 200 Millionen Dollar aus einem Reserveetat zu. Auch wolle er mit der Weltbank über einen Kredit dieser Höhe verhandeln. Im Etat des kommenden Jahres solle ein Posten für die Reparatur der zerstörten Strom- und Telefonnetze, der Gas- und Wasserleitungen sowie für den Wiederaufbau Hunderter von Brücken eingerichtet werden.

Als das Wasser am Sonntag Breslau, die viertgrößte Stadt Polens, unter Wasser setzte, war klar, daß damit die Schäden ins Unermeßliche stiegen. In einem zweiten Fernsehauftritt deutete Cimoszewicz an, daß die Regierung möglicherweise eine Sondersteuer für die Aufräumarbeiten beschließen werde. Für heute hat das Präsidium des polnischen Abgeordnetenhauses eine Sondersitzung anberaumt, in der die Regierung ihr Hilfs- und Wiederaufbauprogramm vorstellen soll.

Deutschland entsandte bereits Experten des Technischen Hilfswerks mit Pumpen, Notstromaggregaten, Decken und Trinkwas-

serbehältern. Außenminister Kin-

kel kündigte ein Soforthilfepro-

gramm in Höhe von 400.000 Mark

an. Frankreich, die Niederlande,

auch die Ukraine und Japan boten

ihre Hilfe an.

Da will der polnische Staatschef nicht zurückstehen. Aleksander Kwaśniewski versprach angesichts der Hilfsbereitschaft vieler Polen, sein gesamtes Gehalt bis Jahresende für die Opfer der Flut zu spenden.