„Kritik an Arafats Politik ist nicht erlaubt“

■ Der Psychiater Ijad al-Sarradsch, der jahrelang Opfer der israelischen Besatzungspolitik behandelte, ist Vorsitzender eines unabhängigen Bürgerrechtskomitees in Gaza

taz: Wie würden Sie die Lage der Menschenrechte in den Autonomiegebieten beschreiben?

Ijad al-Sarradsch: Das wichtigste Thema ist die Korruption und der Mißbrauch öffentlicher Gelder. Die Sicherheitsdienste haben jetzt, wie es scheint, den Befehl erhalten, die Folterungen zu stoppen und die Gesetze anzuwenden, wenn Menschen ins Gefängnis kommen. Einige werden aber verhaftet, weil sie ihre Meinung frei geäußert haben. Sie bleiben für einige Zeit im Gefängnis, werden dann aber ohne Anklage wieder freigelassen. Das sind ernste Verstöße.

Sie wurden 1996 vom Sicherheitsdienst verhaftet und gefoltert. Was glauben Sie, waren Arafats Motive, Sie mißhandeln zu lassen? Sollten Sie abschreckendes Beispiel für alle palästinensischen Intellektuellen und Kritiker der Autonomiebehörde sein?

Ich glaube, Arafat sieht sich als Vater der Nation. Er liebt es, andere zu disziplinieren. Er mag keine Kritik, die von der „auswärtigen Verschwörung“ benutzt werden könnte. Er glaubt an diese Verschwörungstheorie gegen uns. Deshalb ist er sehr hart gegenüber Leuten, die ihn oder die Behörden kritisieren. Die Veröffentlichung meines Falles brachte die Frage der Menschenrechtsverletzungen erst ans Licht, zeigte aber auch deutlich, daß Korruption, Folter und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind. Daraufhin begannen immer mehr Menschen, dagegen ihre Stimme zu erheben. Selbst innerhalb der Autonomiebehörde sprach man sich gegen diese Politik aus. Auf dem Gebiet der freien Meinungsäußerung liegt noch einiges im argen, da müssen wir noch kämpfen. Auch sind nach wie vor Menschen im Gefängnis, von denen bisher keiner etwas gehört hat.

Werden immer noch Kritiker des Friedensprozesses eingeschüchtert?

Jetzt darf man den Friedensprozeß kritisieren. Was nicht akzeptiert wird, ist die Kritik an der Autonomiebehörde und der Korruption. Deshalb gehen sie so hart gegen Kritiker vor.

Wie beurteilen Sie die Hinrichtung dreier Grundstücksmakler?

Ich verurteile die Ermordung von Menschen, aus welchen Gründen auch immer. Ich weiß, wie wichtig die Bodenfrage für die Palästinenser ist. Sie ist ebenso wichtig für Israel. Natürlich wollen wir unser Land vor israelischer Kontrolle schützen. Aber es verstößt gegen jede menschliche Moral, dabei die Ermordung von Menschen zu entschuldigen. Falls es jemand gibt, der unser Land illegal verkauft hat, sollte er angeklagt werden.

Hat die Autonomiebehörde etwas mit den Hinrichtungen zu tun?

Weiß ich nicht, aber sie verurteilt sie nicht. Das macht sie verdächtig.

Welche Gruppen in der palästinensischen Gesellschaft profitieren vom Friedensprozeß?

Es gibt eine große Anzahl von Leuten, die für die Autonomiebehörde arbeiten. Einige können aber auch wieder in Israel arbeiten – wenn die Autonomiegebiete nicht gerade abgeriegelt werden. Die Entwicklung in Palästina hat eine neue Elite geschaffen. Diese kontrolliert die Wirtschaft, sie hat das Monopol über Im- und Export. Mehr als 95 Prozent der Menschen leben so, wie sie schon unter israelischer Besatzung gelebt haben. Vielen geht es sogar schlechter.

Wie, glauben Sie, werden die Palästinenser sich verhalten, wenn die Lage so bleibt, wie sie ist, oder noch schlechter wird?

Es gibt eine intensive Debatte über die Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten. Ich glaube, daß eine neue politische Generation die Führung übernehmen wird. Die Palästinenser wissen, daß sie nur durch eine demokratische Auseinandersetzung ihre Probleme werden meistern können.

Hängen nicht viele Probleme mit der Rückkehr der Exilpalästinenser zusammen, die die interne Elite von der Macht ausgeschlossen hat?

Es war nur natürlich, daß jene PLO-Mitglieder die Macht übernehmen, die die Verhandlungen geführt und Arafat beraten haben. Das Problem ist, daß wegen ihres persönlichen und des Gruppeninteresses eine große Kluft zwischen diesen Leuten und der Bevölkerung besteht. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, muß das Problem offen diskutiert werden. Die Menschen hatten viel Vertrauen in die Wahlen gesetzt. Jetzt sehen sie, wie machtlos das gewählte Parlament ist. Wenn die Elite nicht ihre Verantwortung wahrnimmt, wird sich die Lage noch verschlechtern. Es wird womöglich zu einer gewaltsamen Konfrontation kommen.

Könnte es zu einer neuen Intifada kommen, die sich nicht gegen die Israelis, sondern gegen die Autonomiebehörde richtet?

Solange Arafat an der Spitze steht, ist so was nicht möglich. Nach Arafat ist eine gewaltsame Konfrontation nicht auszuschließen.

Sieht es nicht so aus, als ob die Palästinenser unter israelischer Besatzung freier waren als unter palästinensischer Kontrolle?

Auf dem Gebiet der Meinungs- und Pressefreiheit gab es ein größeres Spektrum an Möglichkeiten. Es gibt bis heute noch eine israelische Zensur. Viele Journalisten, Schriftsteller oder Herausgeber in Palästina haben heute Angst, alles zu veröffentlichen – wegen der Erfahrungen in den letzten drei Jahren. Es wurden viele Journalisten verhaftet und eingeschüchtert. Im Alltag gibt es eine gewisse Furcht, seine Meinung frei zu äußern. Man hat Angst, daß man bei den Sicherheitsdiensten denunziert wird. Das heißt nicht, daß das in jedem Fall geschieht. Aber das Gefühl ist da. Interview: Ludwig Watzal