Mein erstes Mal

■ Heute: Peter Nidetzki, freier Autor, über den Zauber seines ersten Horror-Films

Verschwommen kriecht die Erinnerung an meinen ersten Horror-Film durchs Hirn - wie der unvermeidliche nebelgraue Nachtdunst durch die Grabsteinreihen. Aus den entlegensten Regionen des Gedächtnisses gellt ein martialischer Schrei. Ich erblicke eine verwegen schöne Frau mit bluttriefenden Zahnreihen und, ja, die Fäden, zähe Fäden von verbranntem Wangenfleisch ... aber dazu später.

Gerade mal schulpflichtig geworden, von den elegisch fotografierten Mordopfern im Kommissar und den penibel nachgestellten Verbrechen in Aktenzeichen XY hinreichend für die Abseiten menschlicher Nicht-mehr-Existenz sensibilisiert, tauchte ich eines allzu späten Abends tief hinein in die Welt des schaudrig-schönen Scheins.

Der Schichtdienst meines Vaters und der angenehme mütterliche Hang zum Tiefschlaf vor dem Fernsehschirm ermöglichte mir kulturell wegweisende Erlebnisse, weit vor dem Alter, das ängstliche Pädagogen dafür vorgesehen hatten.

Der Film, ich bekomme ihn nur noch in Fetzen zusammen, spielte im östlich-fernen Irgendwo, Rumänien vielleicht. Da tanzte eine blonde Unschuld durch üppige Weiden, ein graziler Herr charmierte, weise Großväter raunten düstere Histörchen und dann war da noch SIE: Schwarze Telleraugen, in hunderten von Jahren aufgetürmtes Schwarzhaar, die Haut so sanft, die Lippen so rot (trotz Schwarzweiß-TV) und die Zähne, im Backenbereich, so spitz – untote Weiblichkeit, triebhaft und blutgeil, zu ewigem Vampirdasein verdammt.

Die blutigen Tumulte auf dem Bildschirm, von meiner brillenlosen Kurzsichtigkeit gemildert, gipfelten in einer grauslichen Folterszene, in der IHR, der Hexe, eine glühende Maske aufs Gesicht gepreßt wurde; außen eine entsetzliche Fratze, innen Nägel, die sich in das „schuldige“Fleisch brennen sollten. Sofort, soll man sagen: entbrannte?, eine fast willenlose Sympathie für Verdammte. Warum, zermaterte ich mein junges Hirn, richtete sich der Zorn der jungen Dorftölpel und zornesblöden Pfaffen ausgerechnet gegen die interessanteste, verführerischste und selbstbewußteste Erscheinung des ganzen Films?

Die sich das alles natürlich nicht gefallen ließ. In einer noch dunkleren als der Folter-nacht öffnete sich ächzend die Grabstätte und die Hexe taumelte hervor. Zu wilden feministischen Rachezügen entschlossen, riß sich die Beklagenswerte die Maske vom Gesicht. Mit einem traurigen Schmatzen schlüpften die rostigen Nägel aus den Wunden, lange, übelriechende Fäden aus Blut und Fleisch mit sich nehmend. Seit diesem ersten Mal denke ich bei jeder fädenziehenden Käsepizza, bei jedem Mozarella-Gratin an das gemarterte Gesicht aus dem fernen Irgendwo meiner Kindheit. Und seit diesem ersten Mal erliege ich immer wieder den schönen, gefährlichen Damen, die spitzzähnig und zornbereit durchs Leben schreiten, wissend, daß irgendwann die EINE dabei ist, bei der die Liebe hält, über viele hundert Scheiterhaufentode hinaus ...

Peter Nidetzki