Schüsse in „Klein Moskau“

Altonaer Blutsonntag: An einem regnerischen Sonntag vor 65 Jahren starben 18 Menschen bei Kämpfen zwischen SA, Polizei und Kommunisten. Verhaftet wurden Unschuldige  ■ Von Kay Dohnke

Aus der Luft muß die Altstadt von Altona am Nachmittag des 17. Juli 1932 ein merkwürdiges Bild abgegeben haben: Wie ein Lindwurm schlängelt sich ein Menschenzug durch die engen Gassen zwischen Königstraße und der heutigen Chemnitzstraße, marschiert von West nach Ost, macht kehrt, durchzieht die Parallelstraße und schwenkt dann wieder um. Ein Zug uniformierter Männer, der immer wieder stockt: Dann kommt es zu Handgreiflichkeiten mit den Menschen am Straßenrand.

Was von oben wie ein Hin- und Herwogen aussieht, trägt, von ebener Erde aus betrachtet, identifizierbare Züge: Etwa 7000 SA-Männer aus Schleswig-Holstein marschieren am 17. Juli 1932 gegen 16 Uhr in die „Klein Moskau“genannte Gegend ein, in der die KPD großen Rückhalt besitzt. Schon seit Tagen haben die Nazis die ArbeiterInnen in Bahrenfeld, Ottensen und Altona provoziert. Eben erst wurde das Uniformverbot gegen SA und SS aufgehoben, und am Ende des Monats soll ein neuer Reichstag gewählt werden – die Nazis fühlen sich stark.

Altonas Arbeiterschaft hat versucht, den angekündigten Nazi-Aufmarsch zu verhindern, doch ohne Erfolg. Also organisiert sie selbst die Verteidigung.

Der 17. Juli 1932 ist ein regnerischer Sonntag. Der erste Teil des SA-Umzuges durch Bahrenfeld und Ottensen verläuft ruhig, doch in den engen Gassen Altonas nimmt die Provokation der SA überhand. Besonders an der Kreuzung Schomburgstraße und Große Johannisstraße haben sich viele Arbeiter versammelt, die die Straße nicht tatenlos räumen wollen. Unter ihnen ist auch der Klempnergeselle Bruno Tesch. Als die SA den Weg freiprügelt, fallen erste Schüsse. Ein Polizist springt dem in Bedrängnis geratenen Tesch zur Seite, der darauf einer Frau mit zwei kleinen Kindern aus der Klemme hilft. Tesch wird verhaftet.

Die aus der Menge abgegebenen Schüsse töten zwei SA-Männer und sind Auftakt für eine mehrstündige Straßenschlacht. In Polizeikreisen kursiert das Gerücht, Kommunisten würden von Dächern und Balkonen herab auf die Menschen schießen. Die aus Hamburg eintreffende Verstärkung macht rücksichtslos von der Waffe Gebrauch. Besonders der Einsatzzug unter Oberleutnant Kosa schießt willkürlich auf PassantInnen.

Spät in der Nacht flauen die Auseinandersetzungen ab. Der Polizeibericht meldet 18 Tote, 60 Schwer- und zahllose Leichtverletzte. Nur zwei der Toten waren tatsächlich in die Kämpfe verwickelt – bei den sechzehn anderen handelt es sich um unbeteiligte Passanten oder Menschen, die an den Fenstern ihrer Wohnung von der Polizei erschossen wurden. Allein 12 Menschenleben gehen auf das Konto der Gruppe Kosa.

Die Eskalation der Ereignisse hat weitreichende Folgen – wenn auch auf unerwartete Weise. Am 20. Juli muß die preußische SPD-Regierung auf Druck von Rechts abtreten. Gegen zahlreiche Verhaftete werden Gerichtsverfahren eingeleitet, die aber nur den Tod der zwei SA-Männer zum Gegenstand haben. Obwohl bei Hausdurchsuchungen nur eine einzige Pistole gefunden wird und die 16 anderen Toten eindeutig Polizeikugeln zum Opfer gefallen sind, stellen die Behörden die Schießereien als sorgfältig vorbereitete kommunistische Revolte dar.

Während die polizeilichen Ausschreitungen ungesühnt bleiben, geht die Justiz mit aller Härte gegen vier Männer vor: gegen den Seemann August Lütgens, der die angeblichen Gewalttaten der Kommunisten organisiert haben soll, die Arbeiter Karl Wolff und Walter Möller, denen Beteiligung an der Schießerei vorgeworfen wird, und gegen den Klempner Bruno Tesch, dem ebenfalls Schüsse angelastet werden.

Die Beweislage ist so dürftig, daß Tesch sogar kurzzeitig wieder auf freien Fuß gesetzt werden muß. Doch das Gericht ist unerbittlich: Eine Lütgens mit großer Wahrscheinlichkeit untergeschobene Skizze des Stadtviertels reicht, um ihn zum Rädelsführer zu stempeln. Wolff und Möller werden pauschal zu Mordschützen erklärt, obwohl die tödlichen Kugeln nicht aus der bei Möller gefundenen Waffe stammten. Und mit Hilfe fingierter Zeugenaussagen wird auch der gänzlich unbeteiligte, allerdings aufgrund seines politischen Engagements beim kommunistischen Jugendverband aktenkundige Bruno Tesch des Mordes „überführt“.

Am 2. Juni 1933 verhängt das nationalsozialistische Sondergericht gegen alle vier Angeklagten die Todesstrafe. Das Urteil wird am 1. August im Hof des Altonaer Amtsgerichtes vollstreckt.

Bis zum Oktober 1937 finden noch fünf weitere Blutsonntags-Prozesse gegen 93 Beteiligte statt. Das Gericht verhängt 72 Zuchthaus- und eine Gefängnisstrafe; Freisprüche sollen die Rechtmäßigkeit der Verfahren suggerieren.

Doch gründliche Recherchen, Jahrzehnte später von dem französischen Forscher Leon Schirmann vorgenommen, haben genau das eindeutig bewiesen: Im Juni 1933 wurden vier Unschuldige wegen der Morde verurteilt und staatlicherseits umgebracht. Die noch vor Machtantritt Hitlers vorgenommene Fälschung der Beweismittel wirft auf die Justiz der demokratischen Ära Weimars ein zweifelhaftes Licht. Die aus politischen Gründen erfolgten Todesurteile gegen Tesch und Möller, Lütgens und Wolff werden erst 1992 aufgehoben.

Nach Bruno Tesch heißt heute eine Gesamtschule, nach Karl Wolff eine Seitenstraße der Chemnitzstraße, August Lütgens und Walter Möller sind Namensgeber für kleine Parks, von denen einer sich im Bereich der damaligen Ereignisse befindet. Am Gericht an der Max-Brauer-Allee befindet sich eine Gedenktafel für die vier Opfer eines Justizmordes.

Zum 65. Jahrestag des Altonaer Blutsonntags zeigen VVN und B-Movie zwei Filme. Heute um 20 Uhr im B-Movie, Brigittenstraße: „Wer war Bruno Tesch?“90-Min-Videofilm von Maryn Stucken nach dem Theaterstück der Bruno-Tesch-Schule, 1985. Am Samstag um 22.30 Uhr im Open-Air-Kino im August-Lütgens-Park / Hospitalstraße: „Das Beil von Wandsbek“. Dokumentarfilm von Breloer/Königstein nach dem Roman von Arnold Zweig, 1982.

Die beste Darstellung der Vorgänge bietet das Buch von Leon Schirmann: Altonaer Blutsonntag 17. Juli 1932. Dichtungen und Wahrheit. Hamburg 1994.