Auf dem kleinen Finger balanciert

In die Luft gehoben und wieder abgesetzt – einfach so, der Stimmung wegen: Der Cirque du Soleil verbreitet mit seiner neuen Produktion „Alegria“ Freude auf dem Potsdamer Platz  ■ Von Petra Kohse

Was für ein Anblick! Herrlich weiß und tröstlich kühl leuchtet das Grand Chapiteau des kanadischen Cirque du Soleil vielgipfelig über den Bauschutt des nördlichen Potsdamer Platzes. Ein rettendes Dorf in böser Sierra. Um auf den Marktplatz und damit ins Zentrum der Freude zu gelangen, muß allerdings ein ganzer Parcours merkantiler Hindernisse durchquert werden. Product Placement nimmt ein ganzes Nebenzelt ein, CD-Verkäufer mit Narrenkappe üben sich in Offensivstrategie, und im Eingangsbereich wird eine üppige Palette mit allen möglichen Devotionalien feilgeboten.

Der Verkauf von 2.500 meist mehr als 50 Mark teuren Karten pro Vorstellung allein reicht eben nicht, um ein hochrangiges Varieté- und Zirkusprogramm zu finanzieren. Nicht beim Sonnenzirkus. 52 Artisten, etwa 90 weitere Mitarbeiter und 150 zusätzlich vor Ort engagierte Helfer müssen bezahlt werden. 42 Lkws sind nötig, um die 800 Tonnen schwere Ausrüstung zu transportieren. Der Cirque-du- Soleil-Trupp, der mit der 1994 in Montreal uraufgeführten Produktion „Alegria“ derzeit durch Europa tourt, ist ein Troß der Superlative, und als solcher muß er – „Auch wir teilen die Freude an Höchstleistungen!“ – gesponsert werden. Wobei der Cirque du Soleil übrigens selbst eine stattliche Unternehmensgruppe ist. 1984 von einem Mann mit dem unglaublichen Namen Guy Laliberté in Quebec gegründet, hat er sich zu einem beispiellosen Erfolgsmodell darstellender Kunst entwickelt: Mehrere Truppen sind mit verschiedenen Produktionen oft auf drei Kontinenten gleichzeitig unterwegs, es gibt eine permanente Show in Las Vegas, drei andere sind geplant, eine im Jahr 2000 auf dirty old Potsdamer Platz, der bis dahin wie geleckt aussehen wird. Vertraglich abgesichert sind exklusive Produktionen in einem 1.600- Plätze-Theater bis zum Jahr 2015.

Am Freitag nun vollzog sich, als – nach Amsterdam und München – dritte Premiere der Europatournee 1997, der Start von „Alegria“ in Berlin. Was „Freude“ heißt und eine war. Denn wo – „Saltimbanco“, 1995! – mit vollkompatibler, qualitativ höchstwertiger Programmkunst zu rechnen war, da offenbarte sich in der Regie von Franco Dragone auch allerhand Eigenwilliges und Kurioses.

So bleiben die Trampolinspringer, Flugartisten und Trapezkünstler, die Schlangenfrauen und der starke Mann bei aller Akkuratheit, die ihre Kunst erfordert, der Show auch als Individuen erhalten. Da tadelt einer mimisch den zu geringen Applaus, ein anderer kokettiert noch im Sprung, und ein Elfjähriger freut sich ausgelassen über seine Salti auf dem Russischen Barren. Alles funktioniert. Aber ohne Drill. Der Gruppengeist stimmt. Apropos Gruppe, das ist eine Spezialität des Cirque du Soleil: Meist ist ein Großteil des Ensembles auf der Bühne, hilft und illustriert, tritt mal in dieser Rolle, mal in jenem Kostüm auf. Als Zeremonienmeister und direkte Verbindung zum Publikum fungieren die „Charaktermasken“: trollähnliche Vogelmenschen. Die meisten anderen tragen, wenn sie nicht gerade synchron auf dem Trapez schwingen (die Franzosen Sandrine Deplanque und Brice Porquet), einen Feuertanz machen (Lisiate Tuione Tovo aus Hawaii) oder in der Luft mit einem Kubus jonglieren (der Brite Paul Bowler), weißgoldene Trikots und eine Art Badekappe mit weißgetünchter Holzwolle auf dem Kopf, was natürlich nicht so schnöde wie beschrieben, sondern poetisch aussieht – und fast unisex ist: Männer und Frauen sind kaum zu unterscheiden.

Schöne Auftritte, tolle Leistungen, schöne Abgänge. Der belorussische Kraftmensch Stephan Ivanov wird in einem von goldenen Schwänen flankierten Käfig hereingerollt, stemmt 340 Kilo mit den Zähnen und bleibt auf der Bühne bis nach dem Auftritt der zwölfjährigen mongolischen Schlangenmädchen Nomin und Ulziibayar, die er quasi auf dem kleinen Finger herausbalanciert. Auch sonst steht alles im Dienste des Gesamteindrucks. Einer schießt bäuchlings auf einem Wagen und mit einer Haifischflosse auf dem Rücken über die Bühne, ein Sechsjähriger wird von einem Vogel Greif in die Luft gehoben und wieder abgesetzt. Einfach so. Der Stimmung wegen. Dazu spielt ein Orchester klezmerisierte Weltmusik mit ausgepägten Tangoelementen, und die Kanadierin Pierette Arseneau singt, in einem weißen Tüllkleid mit Reifrock und Schmetterlingsfühlern auf dem Kopf.

Unprätentiös und bezaubernd sind auch die Clowns Dmitri Bogatirev und Serguei Chachelev. Besonders schön ist die Szene, in der eine auf dem Boden drapierte Strickleiter zu Gleisen wird, die in den Himmel führen, einer sich zum Abschied selbst umarmt und dann den Wechsel der Landschaften spielt, bis hin zu einem Schneesturm, der auch das Publikum ergreift. Auch ohne eines der nach der Premiere verteilten Nachthemden von „one of our international licencees“ läßt sich danach also bestens träumen.

„Alegria“, täglich um 19.30 Uhr, Sa./So. auch 15.30 Uhr, Grand Chapiteau auf dem Potsdamer Platz. Infos: 22636363