Die Europäische Union will sich vom Mittelmeer bis an die Narwa ausdehnen. Die EU-Kommission hat gestern in Straßburg dem Europaparlament die Aufnahme Zyperns, Ungarns, Sloweniens, Tschechiens, Polens und Estlands vorgeschlagen. Der Zeitpla

Die Europäische Union will sich vom Mittelmeer bis an die Narwa ausdehnen.

Die EU-Kommission hat gestern in Straßburg dem Europaparlament die Aufnahme Zyperns, Ungarns, Sloweniens, Tschechiens, Polens und Estlands vorgeschlagen. Der Zeitplan für den Beitritt hängt von den wirtschaftlichen Fortschritten ab.

Das vereinte Europa bricht auf zu neuen Ufern

Am Anfang war das Wort, und das nicht zu knapp. 1.200 Seiten Papier gab die EU-Kommission gestern den Abgeordneten des Europaparlaments als Lektüre mit in den Sommerurlaub. Die dickleibige „Agenda 2000“ steckt den Rahmen ab für die Osterweiterung der EU. In den nächsten Monaten sollen neben Polen, Tschechien und Ungarn auch Slowenien, Estland und Zypern zu Betrittsverhandlungen eingeladen werden. Andere Länder können folgen, auch die Türkei hat laut EU-Kommission gute Chancen.

Acht Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer werde die Europäische Union nun „die Verantwortung für das ganze Europa“ übernehmen, faßte der SPD-Abgeordnete und frühere Präsident des Europaparlaments, Klaus Hänsch, zusammen. Doch Hänsch kennt den Laden und warnte deshalb die 15 EU-Regierungen: „Fangen Sie jetzt nicht an, das Konzept zu zerfasern, zu zerreden und zu zerpflücken!“

Trotz des „historischen Augenblicks“, der von EU-Kommissionspräsident Jacques Santer ordnungsgemäß beschworen wurde, fehlte es in Straßburg etwas an der weihevollen Stimmung. Das mag daran liegen, daß mit der Erweiterung frühestens in sechs bis sieben Jahren gerechnet wird. Denn das Papier verlangt nicht nur den Aufnahmekandidaten einiges ab. Auch die EU selbst muß noch ein paar Reformen erledigen, bevor sie die neuen Mitglieder überhaupt verkraften kann. Die Auswahl der Länder soll nach strikt objektiven Kriterien erfolgt sein, versicherte der zuständige EU-Kommissar Hans van den Broek. Die Slowakei etwa sei herausgefallen, weil es an stabilen demokratischen Institutionen fehle, Rumänien sei wirtschaftlich zu weit zurück.

Doch auch van den Broek konnte den Eindruck nicht ganz verwischen, daß politische Überlegungen eine wesentliche Rolle gespielt haben. Die Zusage an die ehemalige jugoslawische Republik Slowenien soll offensichtlich Kroaten, Serben und Bosniern signalisieren, daß sich Demokratisierung und marktwirtschaftliche Reformen lohnen. Ähnliches gilt auch für die geplante Aufnahme Estlands. Die Botschaft an die beiden anderen baltischen Staaten ist klar: Wenn es schon mit der Nato auf absehbare Zeit nicht klappt, die EU steht ihnen offen.

Mit Zypern, das ausschließlich auf Druck Griechenlands eingeladen wird, werden sich die Verhandlungen wohl länger hinziehen. Vor einem Beitritt müsse die Insel die Spaltung überwinden, so van den Broek. Er hofft, das Aufnahmeversprechen werde die Bereitschaft zur Versöhnung stärken. Mit ähnlicher Absicht wird in der „Agenda 2000“ auch der Türkei die grundsätzliche Beitrittsfähigkeit attestiert. Voraussetzung dafür seien allerdings deutliche Fortschritte bei der Demokratisierung und vor allem bei der Durchsetzung der Menschenrechte. Um die Westorientierung der Türkei zu stützen, wird die EU die Zollunion ausbauen und an den Finanzhilfen für das seit 1963 assoziierte Land festhalten, die bisher von Griechenland blockiert werden.

Nach Ansicht der EU-Kommission erfüllt keines der zehn Länder, die bisher einen Beitritt beantragt haben, alle Bedingungen. Doch bei den sechs ausgewählten sieht die Kommission die besten Chancen, die Kriterien in einigen Jahren zu schaffen. Neben dem Aufbau stabiler demokratischer Institutionen und der Angleichung der Rechtssysteme an EU-Standard sind das vor allem wirtschaftliche Voraussetzungen. Die Länder müßten zum Zeitpunkt des Beitritts eine funktionierende Marktwirtschaft haben und in der Lage sein, den Wettbewerb mit den EU-Staaten auszuhalten. Derzeit weisen alle Kandidaten ein beachtliches Handelsdefizit mit der EU auf; im zollfreien Binnenmarkt würden sie von der westlichen Industrie an die Wand gedrückt.

Von den wirtschaftlichen Fortschritten hängt auch der Zeitplan ab. Die EU-Kommission empfiehlt deshalb getrennte Verhandlungen: Wer soweit ist, soll aufgenommen werden. Das wird noch einige Jahre dauern, und diese Zeit braucht auch die EU selbst noch. Dabei geht es zum einen um einschneidende Änderungen bei der Agrarpolitik und bei den Finanzhilfen für wirtschaftlich schwache Regionen, weil sonst die Erweiterung gar nicht zu bezahlen wäre. Würde das aktuelle System auf die sechs neuen Staaten ausgedehnt, müßte das EU-Budget um 50 Prozent aufgestockt werden. Agrarkommissar Franz Fischler will deshalb die Garantiepreise für die Bauern schrittweise abschaffen und durch direkte Beihilfen ersetzen. Jeder Bauer soll den Betrag, den er durch die niedrigeren Marktpreise verliert, als monatlichen Scheck aus Brüssel bekommen. Den ungarischen und polnischen Bauern etwa müßten diese Ausgleichshilfen nicht gezahlt werden. Sie produzieren schon jetzt zu Weltmarktpreisen, kein Grund also, sie zu entschädigen.

Auch bei der Reform der Strukturfonds für die wirtschaftlich rückständigen Gegenden werden einige Gebiete aus der Förderung herausfallen. „Die Schwächsten werden weiterhin Geld aus Brüssel bekommen“, versichert die zuständige EU- Kommissarin Monika Wulf-Mathies. Vor allem aber muß die EU die Entscheidungsprozesse straffen, um auch mit 20 oder 21 Mitgliedern handlungsfähig zu bleiben. Das hätte jüngst auf dem EU- Gipfel in Amsterdam erledigt werden sollen, scheiterte aber am Widerstand einiger Regierungen. Klaus Hänsch befürchtet, daß einige Regierungen in erster Linie an die eigenen Bauern denken oder an die gefährdeten Strukturmittel aus Brüssel. „Manche blockieren die Reform, um die Osterweiterung zu verhindern“, warnte er, andere wollten die Osterweiterung ohne vorherige Reformen, damit „die EU zur bloßen Freihandelszone“ verkomme. Dann wäre der Preis zu hoch, so Hänsch, „auch für die Kandidatenländer, die ja in die EU wollen, so, wie sie jetzt ist“. Alois Berger, Straßburg