: Politik der Gesten
■ Ministerpräsident Yilmaz steuert Liberalisierung an
Rigide Preisaufschläge waren die ersten Amtshandlungen der neuen türkischen Regierung Mesut Yilmaz. Benzin wurde um 30 Prozent, die Telefongebühren um 50 Prozent, die Mautgebühren über die Bosporus-Brücke um 250 Prozent erhöht. Ein Sturm der Entrüstung wäre zu erwarten gewesen. Doch die Revolte der Öffentlichkeit blieb aus. Die politische Aggression der islamistisch-konservativen Koalition unter dem Gespann Erbakan/Çiller, die in der Gesellschaft Zwietracht säte, hat den Türken die Sprache verschlagen. Wohl deshalb erteilt sie nun der neuen Regierung einen Blankoscheck. Um den islamistischen Politphantasten Erbakan und die korrupt-kriminelle Çiller loszuwerden, war kein Preis zu hoch.
Die neue Regierung Yilmaz, die den Wind im Rücken hat, versucht mit kleinen Schritten dem Wunsch nach gesellschaftlichem Frieden entgegenzukommen. Derzeit denkt das Kabinett darüber nach, wie Journalisten und Intellektuelle, die als „Terroristen“ verurteilt im Gefängnis einsitzen, freigelassen werden können. Die berüchtigte Verfassung verbietet eine Generalamnestie. Hundert juristische Tricks sind im Gespräch – allesamt Maßnahmen, die die repressiven Paragraphen, mit denen Regimekritiker zum Schweigen gebracht werden, nicht abschaffen, sondern deren schreckliche „Auswüchse“ beseitigen. Es ist die Zeit symbolischer Gesten. Eine radikale Transformation ist von dieser Regierung nicht zu erwarten.
Nichtsdestotrotz sind solche Gesten der Regierung Yilmaz von politischer Bedeutung. Skurrile Verhältnisse: Yilmaz, der sein Amt den Generälen verdankt, die den Machtkampf gegen Erbakan und Çiller eröffnet und gewonnen haben, verbreitet den Weihrauch von Liberalität. Doch zwei große Prüfsteine stehen bevor.
Verhängnisvoll wäre eine Abdrängung der Islamisten in den Untergrund, wie es sich die Generäle wünschen. Des weiteren steht die Aufarbeitung des staatlich gesteuerten, kriminellen Sumpfes an. Allein mit Çiller als Opfer ist es nicht getan. Mörderbanden durchziehen sowohl Polizei- als auch Armeeapparat. Schone die Armee und zerschlage Çillers Mannen in der Polizei – solche derzeit politisch opportun erscheinende Verbrechensbekämpfung wird die Wunden, die in der türkischen Gesellschaft aufgerissen sind, kaum heilen. Ömer Erzeren
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