Wüste im Atlantik

Die Kapverdischen Inseln vor der Küste Senegals haben nur auf den ersten Blick wenig zu bieten. Die karge Natur läßt die Zeit vergessen  ■ Von Manfred Loimeier

Als das kleine, zweimotorige Flugzeug auf der Kapverdeninsel Boa Vista aufsetzt, sind einige Passagiere entsetzt. „Hier ist ja nichts, einfach gar nichts!“ ruft eine Französin. Neben der staubigen Landebahn steht nur ein kleines Häuschen aus Feldsteinen. Dahinter trockene Felder, sandgelbe Ebenen, steinige Ackerflächen, einzelne zerfledderte Palmen und schließlich eine Allee aus windgekrümmten Akazien.

Die Kapverdischen Inseln, 450 Kilometer vor dem Cap Vert Senegals im Atlantik gelegen, sind selten in Atlanten verzeichnet. Dabei waren sie einst Drehscheibe sowohl der Nord-Süd- als auch der West-Ost-Beziehungen; wer Afrikas Westküste erforschen, die Passage nach Indien auf sich nehmen oder den Seeweg nach Amerika finden wollte – seit ihrer zufälligen Entdeckung durch Portugals Seefahrer 1460 waren die Kapverdischen Inseln ein beliebter Haltepunkt.

Auch Kolumbus hat hier geankert und soll, wie es das Gerücht besagt, die Route zur Neuen Welt schlicht von einem kapverdischen Steuermann erfahren haben: mit dem Südäquatorialstrom immer westwärts und dann rechts, ganz einfach, unverfehlbar. Genau so verlegte man später auch das erste Transatlantische Kabel, das es ermöglichte, zwischen Europa, Südamerika und Südafrika zu telefonieren; die Ferngespräche wurden in Mindelo durchgestellt, dem Hauptort der nördlichen Kapverdeninsel São Vicente.

In Vicentes Bars wurde Cesaria Evora berühmt

São Vicente ist eine der trockensten Inseln der Kapverden. Die im Lauf der Jahrhunderte zu Füßen nackter Felsgebirge angewehten kargen Sandflächen begegnen den Ankommenden unwirtlich. Dennoch entwickelte sich Mindelo wegen des günstigen Naturhafens zum wirtschaftlichen und bald auch intellektuellen Zentrum der Kapverden. Dort gründete auch die Sängerin Cesaria Evora in den Bars ihren Ruhm, den sie nun in alle Welt trägt.

Das Inselinnere São Vicentes ist kaum bewohnt und kahl. Dem Bedarf an Brennholz und der Dürrekatastrophe von 1972 fielen die Wälder am Monte Verde zum Opfer. Zwar lassen grüne Streifen auf dem höchsten Berg der Insel noch den Ursprung seines Namens erraten, doch der Blick über São Vicente zeigt verbrannte Erde und unbewachsene Bergrücken, die im Sonnenlicht rötlich glühen. Entfernt kann man die Buchten erahnen, in denen die Bewohner Mindelos badend ihre Wochenenden verbringen; Felswände schützen vor dem rauhen Meer, und Fischer ziehen ihre bunt bemalten Boote auf den Sandstrand.

Erst seit fünf Jahren ist es möglich, die Kapverdischen Inseln direkt aus Deutschland anzufliegen. Man landet dann auf Sal, der östlichsten Insel der Kapverden. Von dort verteilen Fähren die Passagiere über die Inseln, und dort bestehen die meisten inländischen Flugverbindungen. Im Süden Sals befinden sich die beiden einzigen Hotelanlagen, die internationalem Standard genügen. Sie liegen an einem sanft abfallenden Strand zwischen einem gedrungenen Leuchtturm und einem verfallenen Salzwaagehaus, das an die Herkunft des Inselnamens erinnert: Salz. In einem Vulkankrater, in den man mit Windrädern Meereswasser pumpt, verdampft die Feuchtigkeit, so daß das Salz nur noch zu reinigen ist. Über eine veraltete Seilbahn wird es zum Verladehaus gebracht und von quietschenden, klappernden Schüttelsieben sortiert. Ein französisches Unternehmen hat die ungewöhnliche Saline erworben und die Produktion verringert, um nicht den Gewinn aus der eigenen Meersalzherstellung in Europa zu schmälern.

Wer den Flug nach Sal bucht, muß im Reisebüro meist erläutern, daß die Kapverdischen Inseln sehr wohl ein eigener Staat sind. 1975 erklärte die Republica do Cabo Verde ihre Unabhängigkeit von Portugal. Seit sechs Jahren regiert die Movimento para a Democracia, die Bewegung für Demokratie, in Praia, der Hauptstadt der Republik, und der größten Kapverdeninsel Santiago. Mit der Ernennung zur Hauptstadt quoll das auf einem Plateau liegende Praia über. Schnell erbaute Häuser und hastig angelegte Wohnviertel wucherten über das alte Stadtgebiet hinaus und verdrängten die Bananenplantagen am Fuß des Plateaus. Die Infrastruktur konnte mit dem schnellen Wachstum nicht Schritt halten; Lastwagen bringen heute das Wasser, nachts wird der Strom abgestellt.

Die alte Hauptstadt Cidade Velha mit einer als Steinbruch dienenden Festung, in der die Kanonenrohre verrosten, liegt dagegen wie vergessen im Südwesten Santiagos. Das augenfälligste unversehrte Zeugnis der Vergangenheit ist dort eine aus gelblichem Stein errichtete Säule, die jahrhundertelang als Sklavenpranger diente. Die übrigen Bauten und Ruinen der einstigen Metropole der portugiesischen Kolonialherren liegen versteckt inmitten von Bananenstauden, neu errichteten Häusern und einem kleinen Wäldchen, das die Mündung eines Flußlaufs begrünt. Eine Kirche und eine Kathedrale sind noch erhalten, einige Mauern eines Jesuitenkollegs und die Fundamente einer Klosterkirche.

Der Schnaps schmeckt sehr süß und schwer

Wandert man das Flußbett entlang, verrät bald scharfer Geruch, womit sich mancher Bewohner Cidade Velhas seinen Lebensunterhalt verdient: Grogue – ein selbstgebrannter Zuckerrohrschnaps, vor dessen zuweilen hohem Gehalt an Methylalkohol gewarnt wird; er schmeckt süß und schwer und füllt dickflüssig die Mundhöhle. Von den Brennöfen senkt sich schwarz die Schlacke herab, und Männer mit verrußten Gesichtern winken lachend aus den Destillerien hervor. Etliche Meter weiter waschen barbusige Frauen Wäsche und ihre nackten Kinder. Ein kleiner Wasserfall plätschert, und neugierige Affen hüpfen schnatternd umher.

Im Landesinneren Santiagos erhebt sich weithin sichtbar der Berg Pico do Antonio, zu dessen Füßen vormals entflohene Sklaven das kleine Paradies Sossego anlegten. Neben Fichten und Zypressen wachsen Bananen und Palmen, und auf den Terrassen, die den Berg hochwandern, gedeihen Kartoffeln, Mais und Bohnen. Selbst in trockenen Monaten fließt hier Wasser, so daß bis zum Berggipfel empor Menschen in strohgedeckten Hütten wohnen.

Hunde kläffen unerwarteten Gästen entgegen, Kinder gucken wortlos den Europäern nach, die unbegreifbar einen Aufstieg wählen, den kaum ein vernünftiger Mensch freiwillig nimmt. Eine 200 Meter hohe Steilwand, dorniges Gestrüpp und dann noch die Hitze der Sonne. „Gottes Segen auf euren Wegen, Fremde“, grüßt ein alter Mann mit einer Machete, die er weglegt, um jedem von uns die Hand zu geben.

Auf dem Bergsattel öffnet sich ein weites Panorama. Täler tun sich auf, Eukalyptus- und Pinienwälder erstrecken sich über die Hänge, und dort, wo sich der Gebirgszug senkt, liegen im Norden Santiagos der Badeort Tarrafal und ein Konzentrationslager, in dem Häftlinge aus den ehemaligen portugiesischen Kolonien Angola, Mosambik, São Tomé und Guinea-Bissau gefangengehalten wurden.

Agostinho Neto, der spätere Präsident Angolas, mußte die hier üblichen Folterungen über sich ergehen lassen. So füllte man eine Kabine mit Wasser, und der Häftling mußte tagelang ohne Nahrung gebückt im nassen Dunkel stehen. Es gab Kammern, die bis zur völligen Finsternis und Lautlosigkeit abgeblendet und abgedämmt werden konnten. Von der Decke einer Zelle baumeln noch immer Handschellen, mit denen Gefangene bis zur Besinnungslosigkeit aufgehängt wurden.

Inzwischen nutzen Landarbeiter Teile des Gefängnisses als Lagerhallen, und sie freuen sich über die wenigen Besucher, die vom nahen Badeort Tarrafal kommen und sich für die Geschichte der Anlage interessieren. Doch allzu verlockend ist der helle Sandstrand in der von Palmen bewachsenen Bucht Tarrafals, in der einfache Bungalows und Ferienhäuser an die Ausflügler aus der Hauptstadt vermietet werden.

Einen Ort namens Tarrafal gibt es auch auf einer weiteren Insel. Ein früherer Bischofssitz auf São Nicolão sorgte dort zur Ansiedelung eines Priesterseminars, das sich zur Wiege kapverdischer Literatur entwickelte. Weil dies aber den portugiesischen Kolonialherren nicht gefiel, wurde 1917 das Priesterseminar geschlossen. Jetzt bewohnen Kapuzinermönche das Gebäude, und sie hüten einen Kirchenschatz, der einmal in einem Museum ausgestellt werden soll. Einige Kilometer abseits von Tarrafal zeugen die schwarzsandigen Strände São Nicolãos vom vulkanischen Ursprung der Kapverden.

Schwarz, tiefschwarz sind auch die Uferstreifen und Berghänge der Insel Fogo. Sie ist die 2.800 Meter hohe Spitze eines Vulkans, der aus dem Meer ragt. Mattschwarz hebt sich sein Gipfel vom Blau des Himmels ab. Aschenberge, Tuffsäulen und schroffe Lavaströme geben dem Kraterinneren einen unwirklichen Anschein. Morgens, wenn man in der Kälte der weichenden Nacht den Vulkankegel besteigt, kann man inmitten des zerklüfteten, von einer steilen Felswand umgebenen Geländes aber auch Felder erkennen, auf denen eine landwirtschaftliche Kooperative Wein und Kaffee pflanzt. Viele der Bewohner sind blond und hellhäutig; ihr Aussehen kündet von der lange zurückliegenden Rechtsprechung im portugiesischen Mutterland, verurteilte Adelige und politisch Mißliebige nach Fogo zu verbannen.

Bis vor kurzem war São Filipe auf Fogo der einzige Ort, von dem aus man auf die grünste Insel der Kapverden, auf die Blumeninsel Brava, übersetzen konnte. Seit diese kleinste bewohnte Insel mit dem Flugzeug zu erreichen ist, fällt es leicht, die üppigen Gärten und die Buntheit der Oleander-, Bougainvillea- und Hibiskusbüsche Bravas zu bewundern. Ebenso spannend ist auch ein 1982 gestrandetes Schiff, dessen Wrack im Nordosten der Insel vor der Küste liegt.

Langsam verschwindet auch vor den Korallenriffen der Insel Boa Vista ein Schiffswrack im Sandstrand. Unter Wasser sollen dort rund sechzig weitere Schiffe ruhen, die nun die Kompasse nahender Boote verwirren und Anziehungspunkt für Taucher und Schnorchler sind. Ebenso ragen nahe des Hauptorts Sal Rei zwei Schiffsmasten aus dem Meer. Am Ufer, wo eine aufgegebene, zerfallene Ziegelei in Wanderdünen versinkt, treffen sich am Wochenende im Schatten der wenigen Palmen und zwischen ausgetrockneten Schildkrötenpanzern die Arbeiter aus der Fischfabrik zum Grillen. Der Thunfisch, den sie in der Fabrik eindosen, wird an italienische Firmen verkauft, die den Fisch in kleinere Konserven umverpacken und als EG-Erzeugnis zum besseren Preis weiterverkaufen.

„Hier ist nichts?“ fragt einer der Fischer lachend, als wir ihm die Eindrücke von der Ankunft auf Boa Vista schildern, „hier ist nichts? Da müßt ihr einmal nach Maio fahren, der Nachbarinsel von Boa Vista. Dort ist wirklich nichts! Soviel nichts gibt es sonst nirgends wie auf Maio!“

Tatsächlich. Auf Maio scheint es überhaupt nichts zu geben, nur noch mehr Sonne, noch mehr Strand, noch mehr Sand, noch mehr Ruhe, noch mehr Einsamkeit, noch mehr Verlassenheit, noch mehr Wellen, noch mehr Wracks, noch mehr Verlorenheit. Auf Maio vergißt man, daß es etwas geben könnte. Man vergißt die Zeit, die Erholung, die Entspannung, den Urlaub, den Wunsch, etwas zu erleben. Auf Maio vergißt man sogar sich selbst. Gerade dadurch kommt man ganz zu sich.

Auskunft: Botschaft der Republik Kap Verde, Fritz-Schäffer-Str. 5, 53113 Bonn, Tel. 0228/265002