■ Die Linke und Europa (1): Allein die Nation garantiert bislang liberale Freiheiten, Recht und soziale Sicherheit
: Europa: Ein Theoriedefizit

I. Die Stimmungslage

Die deutsche Linke muß sich zu Europa verhalten und scheint angesichts der innenpolitischen Konfliktlage keine andere Option zu haben, als für Maastricht, Schengen, den Euro und jetzt – mit einigen Abstrichen – auch für Amsterdam einzutreten. Die einen tun dies, weil sie altgediente Antinationalisten sind, die anderen, weil ihnen das undurchsichtige Grau in Grau des Brüsseler und Straßburger Zuständigkeitsdschungels als Trainingslager politischer Tugendhaftigkeit dient.

Nach den revolutionär-überschwenglichen Irrtümern der Jugend soll ein Handlungsbereich, in dem keiner mehr durchblickt und auf absehbare Zeit keine politische Prämie winkt, als Unterpfand gereiften Veränderungswillens dienen. Andere wiederum sind für das Amsterdam-Europa, weil sie regierungsfähig bleiben wollen, und schließlich sind jene nicht zu vergessen, die das Ganze einfach chic finden. Wer heute in Deutschland gegen Euro, Maastricht und Amsterdam ist, muß entweder Franzose sein oder sich des Rechtspopulismus zeihen lassen. Sei's drum.

II. Die politische Lage

Für den aktuellen Prozeß der Integration gibt es mindestens so viele Gründe wie Gegengründe:

Daß die Einführung einer europäischen Währung genausowenig Arbeitsplätze schaffen wird wie die wohltönenden Erklärungen, räumen inzwischen sogar die Befürworter der Einheitswährung ein. Daß die mögliche Neuschaffung von Arbeitsplätzen durch Senkung der Transaktionskosten der Firmen sofort durch eine Fusionswelle aufgehoben würde, ist auch weitestgehend anerkannt.

Im Bereich der Bürgerrechte und Freiheiten sind mit den Europol-Protokollen deutliche Verschlechterungen abzusehen. Die durch das Schengener Abkommen leicht erhöhte Freizügigkeit im Innern wird nach Amsterdam durch eine zunehmende Schließung gegenüber Immigranten und Flüchtlingen erkauft. Ein europäisches Einwanderungs- und Asylrecht ist entweder nicht in Sicht oder wird zum Bremsklotz möglicher nationaler Liberalisierungen.

Gerade die Befürworter wissen, daß es auf Jahre im Maastricht-Europa substantiell nicht viel zu demokratisieren gibt. Das fein austarierte Gleichgewicht zwischen Kommission, nationalen Regierungen und einem aufs Nichtobligatorische verpflichteten europäischen Parlament mag sich immer wieder ein wenig verschieben. Das Parlament wird immer wieder gerade so viel Zuständigkeit dazugewinnen, daß der Einfluß der nationalen Regierungen und der Kommission nicht wesentlich geschmälert wird. Wer dies für böse Absicht hält, hat nicht verstanden, daß es einen europäischen Souverän schon deswegen nicht geben wird, weil die kleineren Nationen dabei hoffnungslos von Deutschland, Frankreich und Großbritannien majorisiert würden.

Was bleibt, ist die Hoffnung auf eine finanzpolitische Großraumpolitik – nur der Euro könne Yen und Dollar aufwiegen. Daß diese Hoffnung ein linkes Projekt nicht tragen kann, sollte sogar heute noch konsensfähig sein.

III. Die nationale Lage

Bei alledem fällt innerhalb der Linken ein bemerkenswertes Defizit demokratietheoretischer Überlegungen auf. Das ist nur zu verständlich: der deutsche Nationalstaat mit seinen Wurzeln im Bismarck-Reich, seinem völkischen Staatsangehörigkeitsrecht und der dazugehörigen fortwirkenden nationalsozialistischen Vergangenheit, mit seinen neutralistisch-pazifistischen Verteidigern, die ihre antiwestliche Haltung gerne im Unterschied zum Nationalismus als „Patriotismus“ bezeichneten, ist nichts – wäre er nur das –, dem auch nur eine Träne nachzuweinen wäre.

Andererseits ist die politische Form des Nationalstaats die in der bisherigen Weltgeschichte einzig bekanntgewordene Formation, in der – nicht notwendig und oft nur auf Zeit – liberale Freiheiten, demokratisch legitimiertes Recht und soziale Sicherheit verwirklicht worden sind. Demokratische Verhältnisse herrschen dort, wo diejenigen, die den Gesetzen folgen, das verbriefte Recht haben, sie auch zu erstellen. Das komplexe Geflecht von Öffentlichkeit, Mehrheitsregel, Repräsentationsregelungen, Judikative und einem Parlament, in dem die Stimme eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin gleich viel wiegen, mag von Land zu Land in seiner Struktur unterschiedlich sein. Entscheidend bleibt, daß im Prinzip und dem Anspruch nach die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, die Gesetze, denen sie sich unterwerfen, aufzuheben oder zu verändern. Die derzeit vorgesehenen Souveränitätsabtretungen im Bereich der Wirtschafts- und „Sicherheits“-Politik ohne die Kompensation eines gesamteuropäischen Souveräns führen zu einem schleichenden Abbau der Demokratie.

IV. Zur Lage der Theorie

Die europäische Einigung wird von den politischen Klassen und Eliten gegen den Willen der Bevölkerungen durchgesetzt. Gerade Maastricht und Amsterdam – so deshalb die Realos unter der europäischen Linken – bieten die Chance, ein wirklich geeintes, demokratisches, soziales und ökologiebewußtes Europa durchzusetzen, ja, seien die dafür sogar unabdingbare Voraussetzung. Dem sekundieren Theoretiker, die früher die Risiken politischer Entscheidungsfindung nicht kraß genug betonen konnten. Heute schwärmen sie mit Hinweisen auf den „angelsächsischen Bereich“ von globaler Vernetzung und dem Projekt einer „kosmopolitischen Demokratie“, wie es etwa von David Held entworfen wurde.

Sicherlich bedarf es dringend einer theoretisch fundierten Debatte über den Nationalstaat im Zeitalter der Globalisierung. Daß dazu im „angelsächsischen Bereich“ ganz andere Entwürfe, die allesamt die Fallstricke des Kommunitarismus vermeiden, vorliegen, sei nur angemerkt. Ihnen allen gelten Menschen- und Bürgerrechte als das höchste Gut politischer Verbände. Damit stehen sie unausgesprochen in der Tradition Hannah Arendts, die eben nicht nur eine Kritikerin des Totalitarismus, sondern auch eine Theoretikerin des Nationalstaates war. „Die einzige Rechtsquelle, die bleibt, wenn die Gesetze der Natur wie die Gebote Gottes nicht mehr gelten“, heißt es in den „Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft“, „scheint in der Tat die Nation zu sein.“ Micha Brumlik